80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)
schaute ich immer noch verwirrt, denn er setzte hinzu: »Rasiert.«
Ich willigte ein. Auch wenn ich das noch nie getan hatte. Damals im Schlafsaal hatte es uns die Aufsicht nicht erlaubt. Später in der Ballettakademie wurde von uns verlangt, die seitlichen Härchen an den Innenschenkeln zu entfernen, sodass nichts Unschickliches aus unseren Trikots herausspitzte, obwohl wir sowohl beim Üben als auch auf der Bühne dicke Strümpfe trugen.
Die Vorstellung, einen splitternackten Venushügel zu haben, versetzte mir einen perversen Kick.
Glatt … bis in den intimsten Bereich ganz die neue Amerikanerin.
Doch schon riss mich Barrys Stimme wieder aus meinem kurzen Tagtraum.
»Es gibt hier ein paar eiserne Regeln«, erklärte er. »Kein Pink, klar? Du zeigst ihnen deine Spalte, das ist alles. Du sprichst nie mit jemandem aus dem Publikum, außer es will jemand einen Lapdance. Du darfst Lapdances ablehnen, aber mach keine Gewohnheit daraus. Was du außerhalb deiner Schicht und des Clubs tust, ist deine Sache. Alles klar?«
Nicht ganz, aber ich nickte dennoch. Zum einen brauchte ich den Job, und zum anderen wuchs in mir die Erkenntnis, dass ich mich regelrecht aufs Tanzen und Strippen freute. Meine Intuition sagte mir, dass ich es nicht nur genießen würde, sondern damit auch eine Art Kontrolle in die Hand bekäme. Über das Leben. Über die Männer. Vergleichbar mit der Erfahrung, die ich bei meinen ersten stümperhaften Blowjobs gemacht hatte, und mit jener in der Nacht, als ich meine Jungfräulichkeit verlor. Ein Gefühl der Macht.
Barry plapperte mit seinem britischen Akzent weiter.
»Ich setze mal voraus, dass du tanzen kannst. Und weil du eine Freundin von Chey bist, brauchst du hier auch nichts pro Auftritt zu zahlen wie die anderen Mädchen, du kannst also das ganze Geld behalten, das du mit Privattänzen machst, und die Trinkgelder auch. Aber bitte erzähl das nicht den anderen. Das gibt nur böses Blut.«
Wieder nickte ich.
»Wann willst du anfangen?«, fragte er zum Schluss.
Mein neues Leben als Stripperin begann gleich am nächsten Tag. Lev gab mir einen Vorschuss, sodass ich mir ein Kostüm besorgen konnte, das ich aus etlichen Einzelteilen zusammenstellte, die ich in den Buden auf dem alten Parkplatz neben dem ehemaligen Tower-Records-Gebäude am Broadway fand, nur ein paar Schritte von Shakespeare & Co entfernt, wo ich liebend gern in den neuesten Büchern schmökerte. Außerdem jagte ich der richtigen Musik hinterher. Es dauerte Stunden, bis ich mich entschieden hatte, wozu ich tanzen wollte. Zuerst dachte ich an etwas Klassisches, vielleicht sogar Russisches, fand es aber dann für die Bowery etwas zu hoch gegriffen. Schließlich fiel meine Wahl auf »A Murder of One« von den Counting Crows. Der Song hatte etwas Melancholisches, das meine russische Seele ansprach.
Nachdem ich am nächsten Nachmittag die Tasche zum zehnten Mal ein- und wieder ausgepackt hatte, um zu überprüfen, ob ich auch alles dabeihatte, was ich eventuell brauchte, und die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war, war ich fast so weit, zur Konditorei zurückzugehen und Jean-Michel anzubieten, meinen Arsch noch einmal zu begrapschen. Alles, bloß nicht auf diese Bühne, die mir nun fast wie ein Schafott vorkam, das auf das nächste Hinrichtungsopfer wartete. Aber nur fast. Ich war viel zu dickköpfig, um mich von ein bisschen Angst unterkriegen zu lassen, und als ich an der Reihe war, trat ich hinter dem schäbigen Garderobenvorhang mit den Bierflecken und Brandlöchern hervor, reckte das Kinn und war entschlossen durchzuhalten.
Bei den wichtigsten Ereignissen im Leben – Geburt, Tod, Verlust der Jungfräulichkeit – ist man nackt. Für mich war das Strippen eine weitere dieser Erfahrungen, die es abzuhaken galt, denn seit dem Augenblick, da ich die Ballettstunden aufgegeben hatte, um stattdessen die Jungs aus der Eisdiele an der roten Backsteinmauer hinter dem Wohnheim zu befriedigen, war alles auf diesen einen Punkt zugelaufen. Die Musik setzte ein, und als die vertrauten Klänge aus dem Lautsprecher drangen, fragte ich mich, was für ein Geschöpf ich wohl von der Leine lassen würde, wenn ich meine billigen Fetzen ablegte und mich den Gästen – die ich, geblendet von Scheinwerfern, kaum sah – in all meiner Nacktheit präsentierte.
Instinktiv wusste ich, dass ich an einen Wendepunkt meines Lebens gekommen war, dass es nun kein Zurück mehr gab. Ganz egal, was ich in der Zukunft auch tat, nichts würde diesen
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