80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)
versuch es in der Innenstadt, da sind die Trinkgelder höher.«
Es stimmte schon, das Publikum des Tender Heart war weder erstklassig noch spendabel. Manche Gäste waren so ungepflegt und ungehobelt, dass ich Barry schon am zweiten Tag kategorisch erklärt hatte, keinen Lapdance zu machen, selbst wenn er mich deswegen hochkant rausschmeißen würde.
Er nannte mir ein paar Adressen, und ich vereinbarte Vorstellungstermine. Von Chey hatte ich immer noch nichts gehört.
Überall machte ich unmissverständlich deutlich, dass ich meine Eignung für den Job keinesfalls auf der Bürocouch unter Beweis stellen und auch die Gäste bloß durch meine Darbietungen auf der Bühne und durch sonst nichts unterhalten würde. Bald konnte ich aus mehreren Angeboten besserer Etablissements auswählen.
Ich trat nun in zwei Privatclubs in der Upper East Side auf, deren Mitglieder aus zahlungskräftigen New Yorkern und Ausländern bestanden, die in den Vier- und Fünfsternehotels rund um den Central Park residierten.
Die Trinkgelder waren hier um Klassen besser. Bald hatte ich meinen Rhythmus gefunden: Ich schlief bis zum Nachmittag und arbeitete in den Nächten und an den Wochenenden im Sweet Lola und im Grand, wo man meine klassische Grundausbildung zu schätzen wusste. An zwei Abenden der Woche kam ein Pianist, zu dessen Musik die Mädchen etwas dezentere Nummern vorführten, mehr wie in einem Varieté. Für meine Darbietung von »Makin’ Whoopee!«, bei der ich praktisch gar nicht tanzte, sondern mich fast ausschließlich auf dem Klavierdeckel räkelte, erntete ich Begeisterungsstürme. Das war ziemlich leicht verdientes Geld und bescherte mir außerdem die besondere Gunst von Blanca, der schönen Tschechin, unserer Bühnenmanagerin.
Hier ließ ich mich sogar hin und wieder auf einen Lapdance ein. Die Gäste in meinen beiden neuen Clubs waren bedeutend kultivierter als die in Barrys Schuppen, sie trugen feine Anzüge und schmissen schon für Kleinigkeiten mit den Dollars nur so um sich. Einer wollte nichts weiter von mir, als dass ich die Schuhe auszog und mich barfuß vor ihm präsentierte. Er zahlte fürstlich dafür, meine Zehen betrachten zu dürfen, und noch mehr, wenn ich ihm erlaubte, seine Wange an meinem Knöchel zu reiben, während ich auf Zehenspitzen stand. Mehr gestattete ich ihm auch nicht – auf keinen Fall wollte ich wegen ein bisschen Extrageld gegen die Richtlinien des Clubs verstoßen und meine komfortable Stellung gefährden.
Aus Gründen der Sicherheit fuhren wir Mädchen nie allein mit dem Taxi nach Hause. Wir hatten alle ein wenig Angst, seit Gloria, mit der ich oft zusammen aufgetreten war, eines Nachts hinter dem Sweet Lola von einem verschmähten Verehrer zusammengeschlagen worden war. Außerdem sparten wir so natürlich Geld. Auch wenn ich mehr verdiente, als ich im Tender Heart jemals für möglich gehalten hatte, ging ich sehr sparsam damit um. So kam es, dass ich eines Nachts den Taxifahrer bat anzuhalten, als das Taxameter – plus ein kleines Trinkgeld – in etwa die Summe anzeigte, die ich an Kleingeld dabeihatte. Den restlichen Weg ging ich zu Fuß. Da es Sonntagmorgen um sechs Uhr in der Früh war und die sonst so belebten Straßen nahe des West Side Highway still dalagen, nahm ich einen kleinen Umweg zum stählernen Bogen von Pier 54 und schaute auf den träge fließenden Hudson, der im Licht der aufgehenden Sonne glitzerte. Hier konnte man öfter einen Tanzworkshop bei Proben und kleinen Aufführungen beobachten, und ich spielte schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken, dort vielleicht mitzumachen, um neue Leute kennenzulernen.
Es lief gut für mich in New York, aber manchmal fühlte ich mich ohne Chey doch unglücklich und einsam. Zwar war ich das Alleinsein gewöhnt, aber es wäre mir leichter gefallen, wenn ich gewusst hätte, wo er eigentlich steckte. Ich wollte ihn ja nicht kontrollieren oder ihm auf die Nerven fallen, und ich kam durchaus allein zurecht, aber ich war in einer von Ordnung und Disziplin geprägten Welt aufgewachsen. Dass er immer ohne Vorwarnung irgendwohin verschwand, verunsicherte mich. Ich wünschte mir mehr Regelmäßigkeit in meinem Leben und das Gefühl, eine sinnvolle Aufgabe zu haben, und sei sie noch so klein.
Nachdenklich und erschöpft kam ich in der Wohnung an. So bemerkte ich zuerst gar nicht, dass Cheys Blazer über einem Stuhl in seinem Arbeitszimmer hing, dass auf dem Küchentresen eine Zeitung lag, und überhörte auch das leise Brummen seiner
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