9 - Die Wiederkehr: Thriller
Weile, bis sie aus dem Albtraum herausfand. Dem Albtraum, der immer damit endete, dass sie ihren Kopf auf Aaróns blutbefleckte Brust legte. Und der sie seit neun Jahren immer wieder heimsuchte und seit einem Monat noch häufiger.
Mit geöffneten Augen, jedoch noch immer nicht in der Lage, die Umrisse im Zimmer genau zu erkennen, erschrak sie über das plötzliche Licht. In Wirklichkeit hatte das Handy sie geweckt. Das Gerät vibrierte immer noch und drehte sich dabei um die eigene Achse.
Andrea rieb sich das Gesicht. Dann streckte sie ruckartig den Arm aus und hielt sich das Telefon ans Ohr.
»Was ist passiert?«, fragte sie einfach nur.
Sie schluckte mühsam und hielt den Atem an.
Der Mann am anderen Ende der Leitung seufzte im Innern seines Wagens.
»Davo, bitte.« Andreas Stimme wurde eindringlicher. »Sag mir, was passiert ist.«
»Nichts ist passiert.«
David legte die Krücke, die er gerade vom Parkplatz vor dem Laden des Amerikaners aufgehoben hatte, auf den Beifahrersitz.
»Nichts ist passiert«, wiederholte er. »Gar … nichts.«
Andrea hörte Davids Worte und schloss die Augen. Für einen Augenblick kehrte der Albtraum zurück. Stirb nicht, ich glaube dir. Sie schüttelte sich, wie um sich dagegen zu wehren.
»Ist der Junge nicht aufgetaucht?«
»Doch doch, der Junge ist gekommen. Er ist in den Laden reingegangen und dann aber einfach wieder rausgekommen. Niemand hat auf ihn geschossen oder ihn entführt, ihm ist gar nichts da drin passiert. Na ja, der Ärmste hat sich dabei fast in die Hosen gemacht, klar. Kein Wunder bei allem, was wir ihm eingeredet haben, dem armen Knirps …«
»Du hast ihn reingehen lassen?« Andrea hätte fast aufgeschrien. »Du solltest doch verhindern, dass der Junge da reingeht.«
»Andrea.« Er machte eine Pause, um sicherzugehen, dass sie ihm auch zuhörte. »Lass es. Hör auf, im Ernst. Dieser Junge ist vor fünf Minuten in diesen Laden reingegangen, an dem Tag, den Aarón genannt hat. Und ihm ist nichts passiert. Wie oft muss ich es wiederholen? Nichts. Aarón war krank, er hat sich in allem geirrt.«
Andrea hörte aus Davids Mund, was sie sich selbst wieder und wieder gesagt hatte. Bei ihm klang es realistischer. Doch sie weigerte sich, es zu akzeptieren.
»Ich verstehe nicht, wie du ihn reingehen lassen konntest, nach allem, was ich dir gesagt habe.« Sie ließ nicht locker.
Sie hatte selbst nicht glauben wollen, was Aarón ihr an hand jenes Papierwusts erklärt hatte. An demselben Abend, an dem Aarón starb, hatte Andrea sich die Papiere noch einmal angesehen. Carlos Ferrero, der mit Héctor Mirabal Streife fuhr, hatte an der Haustür gestanden, die mit Polizeiband abgesperrt war, und hatte ihren Bitten schließlich nachgegeben und ihr die Tür geöffnet. Obwohl es vollkom men den Vorschriften widersprach, war er weich geworden, als er sah, wie sie sich die Nase mit zwei Fingern zuhielt, als könnte sie das am Weinen hindern. Bebend war sie in den ersten Stock hochgelaufen. Die Hose blutbefleckt. Die Finger noch immer feucht von Aaróns Speichel. Ein runder Fleck dunkelte auf dem blauen T-Shirt nach, das sie sich heute Vormittag gekauft hatte. Als sie in die Wohnung trat, erkannte sie die Papiere, die sich über den ganzen Tisch ver teilt stapelten. Die Kopien der Zeitungsausschnitte. Die ka rierten Blätter, die er aus seinem Spiralheft herausgerissen hatte, voller Namen und Zahlen. Das Bündel zusammenge hefteter Seiten auf der Computertastatur. Sie erinnerte sich, wie sie sie ihm ins Gesicht geschleudert hatte, und bereute es jetzt zutiefst. Fünf Minuten lang blickte sie auf diese Papiere hinunter, so lange, wie Carlos ihr erlaubt hatte, hier zu sein, unschlüssig, was sie tun sollte. Dann hörte sie die Fahrstuhlglocke und das Geräusch von Stiefeln, die durch den Flur näher kamen. Da unterschieden ihre Augen in dem ganzen Papierwust und Gekritzel einen mehrmals mit Kugelschreiber eingerahmten Kasten, so oft, dass er an den Ecken eingerissen war. Und in dem Kasten zwei Zeilen:
14. August 2009
Opfer: der Junge
Andrea spürte eine warme klebrige Männerhand auf der linken Schulter. Ohne dass sie den Blick von jenem Stück Papier abwenden konnte, hallte Aaróns Stimme in ihrem Kopf wieder. Und diesmal stirbt der Junge. Andrea streckte die Hand aus, schloss sie fest um das Rechteck aus Tinte und ließ sich hinausführen.
»Hallo?« Davids Stimme rieselte durch das Telefon. »Hörst du mir zu?«
»Das Letzte habe ich nicht gehört, die Verbindung
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