9 - Die Wiederkehr: Thriller
Jetzt sprach Andrea wieder.
Aarón versetzte dem Ladentisch einen Tritt. Der Junge warf sich zu Boden.
»Dabei wäre es so einfach gewesen, nicht zum Open zu gehen.« Das war David. »Ach ja, na klar, du wolltest Andrea beschützen. Aber wovor denn?«
Um das Stimmenwirrwarr nicht mehr hören zu müssen, schrie Aarón, bis ihm die Kehle schmerzte. Doch auch, als seine Kehle schon brannte und er den Metallgeschmack des Blutes im Munde schmeckte, schoben sich die einzelnen Stimmen noch zwischen seine markerschütternden Schreie.
»Es ist deine Entscheidung«, sagte die imaginäre Andrea. »Du kannst auf eine dieser Personen schießen, aber das wird dir nichts nützen, denn sie sind wie Davo. Nichts als Darsteller in einer Szene, die von deinem Tod handelt. Weißt du noch, wie du mir alles erklärt hast? Himmel, Aarón, du hast dir das doch alles ausgedacht! Du hattest mit allem recht. Ich gebe es ja nicht gerne zu, aber so ist es. Da seid ihr, alle fünf, und spielt eure Rollen. Wir müssen diese Leute noch nicht mal danach fragen, wie alt sie sind, stimmt’s?«
Aarón hielt sich die Ohren zu. Mit den Fingernägeln kratzte er sich die Kopfhaut wund. Das eisige Metall der Waffe schmiegte sich an sein Ohr, doch es konnte die Stimmen im Kopf auch nicht zum Schweigen bringen.
»Entweder du schießt sinnlos auf diese Leute hier, oder du schaffst dich selbst aus dem Weg, denn darum geht es hier. Ist schon seltsam, was? Mörder und Opfer sind bei diesem vierten Überfall ein und dieselbe Person.«
Aarón biss sich auf die Zunge, bis ein Stück auf der anderen Seite der Zähne kleben blieb.
»Mörder und Opfer sind ein und dieselbe Person. Der ist gut, was, Aarón?«
Und dann sagten Andrea, David und er selbst, alle gleichzeitig, noch eines:
»Und das Beste daran ist: Die Person bist du.«
Als der Klang eines Martinshorns lauter wurde, begann der Vater des blonden Jungen sofort mit den Armen zu wedeln. Von Weitem war schon das Blaulicht der Streifenwagen zu erkennen.
Andrea Sandiego, die gerade in einem nagelneuen T-Shirt auf dem Weg zum Open war, um den Amerikaner zu fragen, ob Aarón dort aufgetaucht war und mit seinem Chef geredet hatte, hob den Kopf, um zu sehen, woher die Sirenen kamen. Da sah sie einen Mann, der hektisch die Polizeifahrzeuge heranwinkte und auf den Tankstellenshop zeigte. Ihr stockte der Atem.
Andrea hörte den Schuss, noch bevor sie wieder ausatmen konnte.
Ihre Beine setzten sich wie von selbst in Bewegung. Als sie auf Höhe der Zapfsäulen war, kam ein Junge aus dem Ladeninnern. Er warf sich in die Arme des Mannes, der draußen mit den Armen gewedelt hatte.
»Es ist Aarón Salvador!«, rief jemand von drinnen.
Andrea stürzte auf die Tür zu. Ein Polizeibeamter versuchte sie aufzuhalten. Da erkannte sie Aaróns Turnschuh am Ende eines ausgestreckt auf dem Boden liegenden Beins.
Niemand konnte sie stoppen.
Mehr als über den Schmerz war Aarón über die Kälte und Dunkelheit überrascht, als die Kugel seinen Kopf durchdrang.
Dann versagten ihm einer nach dem anderen die Sinne.
Die geöffneten Augen sahen Andrea nicht mehr, als diese sich neben ihn kniete.
Die wunde Zunge konnte Andreas Lippen nicht mehr schmecken, als sie ihn verzweifelt beatmete.
Sein Tastsinn fühlte nicht mehr, wie Andrea die Hände unter seinen Kopf legte und auf die Wunde presste, um den Blutstrom zu stoppen und zu verhindern, dass mit dem Blut sein Leben aus ihm entwich … Eine graue Flüssigkeit klebte an ihren Händen und dem T-Shirt.
Ohne Gehör konnte er Andrea nicht mehr sagen hören:
»Bitte stirb nicht, ich glaube dir.«
Aber als Andrea schließlich den Kopf auf Aaróns blutbefleckte Brust legte, drang der süße Duft von Kamille in ihn ein.
Da wusste Aarón, dass Andrea gekommen war und dass sie bei ihm war.
Wie immer.
Wie immer.
Ohne zu wissen, ob seine Hand ihm gehorchte oder nicht, stellte er sich vor, wie er sie zur Hosentasche führte. Und den Stein aus dem See herausholte.
Und obwohl Aarón etwas Bestimmtes zu Andrea sagen wollte – sag dem Jungen Bescheid. Ich hab mich verrechnet, es wird einen Monat später passieren, am 14. September –, kam ihm etwas anderes über die Lippen:
Er sagte: »Komm ins Wasser.«
Und das Wasser war das Letzte, woran Aarón dachte.
Danach war nichts mehr.
23
ANDREA
Toulouse, Freitag, 14. August 2009
Vom Geräusch des Schusses erwachte Andrea.
Im Dunkeln über den Küchentisch gebeugt zog sie den Kopf ein und stand dann abrupt auf. Es dauerte eine
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