9 - Die Wiederkehr: Thriller
Ihr Kopf lag auf Emilios Schulter, ihre Lippen strichen über seinen Hals.
Da sah sie den Umschlag.
Einen gelben Umschlag, der ganz oben auf dem Haufen Post lag, den Emilio aus dem Briefkasten geholt hatte. Mit schwarzem Filzstift standen ihr Name und die Adresse darauf. Sofort erkannte sie Davids Handschrift. Fast hätte Andrea ihren Mann versehentlich erdrückt.
»Hey, hey«, sagte er. »Ich ersticke gleich.«
Ohne den Umschlag aus den Augen zu lassen, löste sich Andrea von Emilio.
»Heute Nacht ist ja auch noch Zeit«, witzelte er. »Ich geh mal schnell unter die Dusche, dann essen wir, und danach würde ich mich, glaube ich, gern ein bisschen hinlegen.« Er küsste sie auf die Wange. Dann ging er noch einmal zur Tür und holte den Koffer, der immer noch draußen stand. »Und Finger weg vom Koffer, den packe ich morgen aus.«
Andrea nickte und hielt dabei krampfhaft das Lächeln aufrecht, das verschwand, sobald Emilio auf der Treppe war. Als sie die Tür zum Badezimmer hörte, ging sie auf den Umschlag zu und nahm ihn auf. Las noch einmal ihren Namen und die Anschrift. Drehte ihn um und fand »D. M.« als Absender notiert. Die Zeitungen hatten damals die gleichen Initialen verwendet, als sie nach dem Überfall aufs Open über Davids Gesundheitszustand berichtetet hatten. Sie öffnete die obere Lasche und sah hinein. Dabei holte sie tief Luft.
Dann überquerte sie den Flur in Richtung Wohnzimmer. Kniete sie sich vor den Fernseher. Steckte die Hand in den Umschlag. Zog die DVD heraus. Auf einem Kärtchen, das an die Plastikhülle geheftet war, stand: »Leo im Aqua«. David hatte auch eine Anschrift dazugeschrieben. Und das Wort »Telefon«, gefolgt von zwei Punkten. Aber er hatte keine Nummer dahinter notiert. Vielleicht hatte er es sich im letzten Moment anders überlegt. Damit Andrea nicht bei dem Jungen anrief.
»Hatte ich auch nicht vor«, murmelte Andrea.
Sie schwitzte stark an den Händen, als sie die DVD in das Abspielgerät legte. Auf der Bildschirmanzeige erschien ein einziger Titel. Andrea warf das Haar zurück, rieb sich die Augen und atmete tief ein. Dann drückte sie den Knopf auf der Fernbedienung.
Augenblicklich stiegen ihr die Tränen in die Augen.
Der Junge blickte seitlich in die Kamera. Als sie sein Gesicht sah, hob Andrea zwei Finger an die Lippen. Eine Frauenhand hielt die Schulter des Jungen fest umfasst.
Die Stimme einer Reporterin fragte: »Hallo, junger Mann, wie heißt du und wie alt bist du?«
Der Junge überlegte einen kurzen Moment. Andrea konnte sehen, wie er zu der Person aufblickte, die ihn an der Schulter hielt. Daraufhin wandte er den Blick zur Reporterin, presste kurz die Lippen aufeinander und antwortete:
»Ich heiße Leo. Ich bin am 12. Juni 2000 geboren. Rechnen Sie es selbst aus.«
Das Video lief weiter, aber Andrea sah nicht mehr hin. Das Bild spiegelte sich in ihren Pupillen, doch sie erfasste seine Bedeutung nicht. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Auch auf den Lungen spürte sie einen Druck.
Der Atem stockte ihr.
Im Nacken brach ihr der kalte Schweiß aus.
Der Junge hatte 12. Juni 2000 gesagt. Mit weit aufgerissenen Augen durchlebte Andrea von Neuem jenen Albtraum, der immer damit endete, dass sie sich an Aaróns feuchte Brust schmiegte.
»Ich bin ein bisschen seltsam, wissen Sie«, sagte der Junge im Fernsehen.
Das Video endete, und wieder war die Bildschirmanzeige zu sehen.
Andrea drückte erneut den Knopf der Fernbedienung.
»Hallo, junger Mann, wie heißt du und wie alt bist du?«, fragte die Reporterin wieder.
»Ich heiße Leo. Ich bin am …«
12. Juni 2000.
In Andreas Kopf hallte ein Schuss wider.
Er war so laut, dass sie zusammenzuckte. Sie versuchte sich an das letzte Gespräch mit Aarón in seiner Wohnung zu erinnern. Ein entscheidender Satz fiel ihr wieder ein.
Der eine wird geboren, wenn der andere stirbt.
Aaróns Stimme war so deutlich in ihrem Kopf zu hören, dass sie erschrak.
»Moment mal«, sagte Andrea.
Sie sprang auf.
»Moment mal, Moment mal, Moment mal.« Ihre Gedanken überschlugen sich. »Dieser Junge ist am 12. Juni geboren, nicht am 12. Mai. Er wurde an dem Tag geboren, an dem du …« Sie hielt sich mit beiden Händen die Brust. »Du warst der vierte. Davo ist nicht tot. Davo zählt nicht. Die Szene mit ihm zählt nicht. Deshalb …« Beim nächsten Gedanken ging ihre Stimme in ein Schluchzen über. »Deshalb ähnelt er dir.«
Um sich ganz auf die Erinnerung konzentrieren zu können, auf das, was Aarón damals
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