9 - Die Wiederkehr: Thriller
gesagt hatte, bedeckte sie das Gesicht mit den Händen. Die Opfer seien immer an dem Tag geboren, an dem das vorherige Opfer getötet wurde.
»Aber woher wusste er, wann der Junge umkommen würde?«, murmelte sie in die Handflächen.
Da flammte eine weitere Erinnerung auf. Der Junge ist immer genau gleich alt, in Jahren, Monaten und Tagen. Das hatte Aarón gesagt.
»Aber wie alt ist er genau, wie alt …«
Sie strengte das Gedächtnis an, so gut sie konnte, um sich an die genauen Zahlen zu erinnern. Neun Jahre …
»Neun Jahre und wie weiter? Das nützt mir gar nichts, neun Jahre«, jammerte sie.
Sie presste die Augen zu, und da fiel ihr noch etwas ein. Das Herz klopfte ihr.
»Oh nein.« Sie nahm die Hände vom Gesicht. »Du bist vom falschen Datum ausgegangen.«
Plötzlich begriff sie. Sie musste nicht wissen, wie alt der Junge dann genau war. Der Zeitabstand zwischen dem Schuss auf David und Aaróns Tod reichte aus. Denn von Aaróns Tod musste sie ausgehen.
»Zwölfter Juni«, murmelte Andrea. »Genau einen Monat später. Es würde einen Monat später passieren. Deshalb ist am 14. August nichts passiert. Weil man diesen Jungen am …« Ihr Herzschlag verlangsamte sich, bis er aussetzte. Sie las das Datum von ihrer Armbanduhr ab. »14. 9. 2009«. Es kam ihr wie ein Wimmern aus dem Mund: »Heute.«
Emilio war noch im Bad, als er die Haustür zuschlagen hörte. Mit dem Handtuch um die Hüfte trat er auf den Flur.
»Andrea?«, fragte er die Treppe hinunter, in die Leere hinein. »Ist alles in Ordnung?«
Dann hörte er das Auto anspringen. Vom Schlafzimmerfenster aus sah er seine Frau wegfahren.
Im Wagen wählte Andrea Davids Nummer. Das Lenkrad hatte sie mit der anderen Hand umklammert, derselben, in der sie auch die DVD mit Leos Video hielt.
»Davo«, sagte sie, als sie ihn abnehmen hörte. »Der Umschlag ist angekommen. Das Video ist angekommen.« Und dann rief sie: »Er ist es!«
»Andrea?«
»Er ist es. Es ist dieser Junge. Der, den Aarón meinte. Es ist alles wahr.« Während sie in die Seitenspiegel blickte, um auf die Autobahn zu fahren, redete sie stürmisch drauflos. »Es stimmt alles. Er hat sich nur bei dir geirrt. Er ist vom Tag des Schusses auf dich ausgegangen. Aber du bist nicht gestorben. Und der eine wird geboren, wenn der andere stirbt! Wieso haben wir das nicht begriffen? Wieso hast du es nicht kapiert, als du das Video gesehen hast?«
»Ich habe es mir nicht angesehen«, stellte Davo richtig. » Ich will nämlich alles vergessen.«
»Es passiert heute!«, schrie Andrea. Mehrere Autos hupten neben ihr. »Heute werden sie ihn im Laden vom Amerikaner erschießen. Wir müssen ihn aufhalten. Du musst sofort zu diesem Jungen nach Hause fahren und ihnen sagen …«
»Ich lege jetzt auf«, sagte David. »Glaub mir, ich will nicht auflegen, aber wenn du weiter davon redest, tu ich’s.«
Daraufhin schwieg Andrea. Kurz darauf rief sie:
»Verstehst du denn nicht? Es ist heute! Es passiert heute! Im Open!«
»Hör endlich auf«, erwiderte David. Es klang müde.
»Ich sitze im Auto auf dem Weg nach Arenas. Ich fahre zu der Adresse, die du auf das Kärtchen geschrieben hast. Aber ich bin nicht vor zehn da. Du musst mir helfen und nach Hause zu …«
David hatte aufgelegt. Andrea blieb der Mund offen stehen. Sie starrte auf das Handydisplay, als wäre dort irgendeine Antwort zu finden. Sie wählte die Nummer erneut. Davos Telefon war ausgeschaltet. Als das Auto hinter ihr das Fernlicht auf sie richtete, wurde sie durch den Rückspiegel geblendet.
Da vibrierte das Handy.
Es war Emilio. Andrea warf das Telefon auf den Beifahrersitz.
»Ja, ich fahre nach Arenas«, plärrte sie den Apparat an. »Und ja, ich musste den Wagen nehmen.«
Mit aller Kraft trat sie aufs Gas. Das Pedal unter der Fußsohle fühlte sich hart an. Andrea zuckte zusammen. Ein kurzer Blick unter das Lenkrad bestätigte ihre Befürchtung: Sie war in nur Strümpfen aus dem Haus gerannt.
24
LEO
Montag, 14. September 2009
Leo hörte seinen Vater hinter sich auf den Balkon treten, behielt jedoch das Auge auf dem Okular. Zum ersten Mal hatte er den Uranus ausgemacht. Auf Amadors Räuspern hin nahm er das Gesicht vom Teleskop. Er wandte sich nicht um, sagte nichts. Aus der Dunkelheit der Balkontür unter dem elektrischen Rollladen, von wo aus Pi vor einer Ewigkeit den Sternschnuppenregen gesehen hatte, richtete Amador das Wort an seinen Sohn:
»Weißt du, was für ein Tag morgen ist?«
Jetzt richtete Leo sich auf. Dann
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