9 - Die Wiederkehr: Thriller
rechnete jeden Augenblick damit, dass eine Krankenschwester auftauchen und Héctor ein Beruhigungsmittel verabreichen würde. Als hätte er seine Gedanken gelesen, dämpfte Héctor die Stimme, bevor er weitersprach.
»Zu dumm für ihn, dass ich genau weiß, was ich tun werde, wenn ich den Schwachkopf zu Gesicht kriege. Dann wird er merken, was es heißt, sich an dem Bruder eines Polizisten zu vergreifen. Ja, er wird sich noch wundern, wenn er erst mal kapiert, dass ich auch schießen kann.« Héctor war sich wohlbewusst, dass er sich in Rage redete, aber er machte trotzdem weiter. »Und wenn ich schieße, ist es außerdem noch legal. Verstehst du, was ich meine?«
Aarón bestätigte, dass er ihn verstanden hatte.
»Verdammt. Und du, wie geht’s dir?«, erkundigte sich Héctor.
»Andrea und mir geht es nicht so gut. Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich wollte nicht mitkommen. Ich glaube, ich bin noch nicht so weit, um …«
»Schon gut. Ich weiß, was du sagen willst. Mach dir keine Sorgen. Ich bleibe mit meinen Eltern hier. Sollte irgendwas sein, ruf ich dich an.«
Sowohl er als auch Aarón wünschten sich, dass es keinen Anlass für so einen Anruf geben würde.
»Wie auch immer, von jetzt an entscheidet das Schicksal. Ich muss auflegen. Ich glaube, sie lassen uns gleich rein.«
Héctor legte auf, ohne sich zu verabschieden. Man ließ ihn zu seinem Bruder, und der Rest der Welt hörte auf zu existieren. Aarón legte das Handy neben die verbrannten Toastkrümel auf den Tisch. Obwohl er erst eine halbe Stunde wach war, hätte er sich am liebsten gleich wieder ins Bett gelegt.
»Von jetzt an entscheidet das Schicksal«, hatte Héctor gesagt. Da kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, dass er, Aarón, sich seinem Schicksal eventuell widersetzt haben könnte.
Die Gedanken schossen Aarón durch den Kopf, drängten sich ihm auf, und es war fast so, als würde er von ihnen überholt, als könnte sein Kopf schneller denken als er selbst. Beschleunigtes Denken, so lautete der Fachbegriff. Der Gedankenstrom endete mit einem Bild: David im Open, der versucht, ein Kind zu beschützen, bevor man ihm in den Rücken schießt. Und dann noch ein Standbild: Ein anderes Kind, dreißig Jahre zuvor, ebenfalls im Open, ebenfalls Zeuge einer Schießerei, an die es sich nun als Erwachsener wieder erinnert, um den Lokalteil einer Zeitung zu füllen, die kurz vor Redaktionsschluss noch die Nachricht von einem Überfall erhält.
Aarón fasste sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel, als versuchte er sich an den Namen eines alten Schulkameraden zu erinnern. Er wurde das Gefühl nicht los, etwas Wichtigem auf der Spur zu sein. Und während eine leise Stimme in ihm versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass die sonderbare Ahnung, die sich in ihm breitmachte, nur das Resultat einer schlecht durchschlafenen Nacht war und daher völliger Blödsinn, erschreckte ihn sein innerstes Gefühl mit der sonderbaren Gewissheit, dass die plötzlich in ihm aufsteigende Angst doch gerechtfertigt war.
»Es ist meine Schuld«, sprach er laut in die leere Wohnung.
Die Kaffeetasse tanzte auf der Tischkante und fiel zu Boden.
6
LEO
Montag, 21. Juli 2008
Victoria ging an Leos Zimmertür vorbei. Sie bückte sich, um nachzusehen, ob durch den Schlitz unter der Tür noch Licht drang. In der rechten Hand trug sie ihre Stöckelschuhe, in der linken den Luftpostumschlag. Sie presste das Ohr an die Tür, hielt den Atem an und kam zu dem Schluss, dass Leo eingeschlafen war.
Dann ging sie weiter in Richtung Schlafzimmer. Ihre Strumpfhosen knisterten beim Gehen. Sie riss die Tür zum Schlafzimmer auf und gab sich dabei keine Mühe, leise zu sein, denn sie wusste, dass Amador noch nicht schlief. Er saß nicht nackt, mit bis zur Taille hochgezogener Decke im Bett – wie es zu Beginn ihrer Ehe oft der Fall gewesen war, später dann nur noch samstags –, sondern am Fußende, den Oberkörper nach vorn geneigt. Er hatte die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, die Hände ineinanderverschränkt und drehte Däumchen. »Glaub bloß nicht, dass wir es dabei bewenden lassen«, wollte er ihr mit dieser Haltung sagen. So wie in der Nacht vor drei Monaten, als sie nicht nach Hause gekommen war, weil sie ein paar »Zeugenaussagen prüfen« musste. Oder als er es für einen ersten Schritt in die richtige Richtung gehalten hatte, das Problem von mangelndem Sex in ihrer Ehe – das letzte Mal war damals ungefähr ein halbes Jahr her gewesen –
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