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9 - Die Wiederkehr: Thriller

9 - Die Wiederkehr: Thriller

Titel: 9 - Die Wiederkehr: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Pen , Nadine Mutz , Hanna Grzimek
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entziffern. Sie wollte nicht, dass er am Ende zu demselben Schluss kam wie sie: dass die Schrift ganz eindeutig die eines Erwachsenen war. Doch andererseits – wenn es Amador nicht auffiel, dann irrte sie sich vielleicht. Wenn ihrem Mann an der Schrift nichts Merkwürdiges auffiel, war vielleicht auch gar nichts Merkwürdiges dran. Wenn er nur endlich aufhören würde, diesen verdammten Brief zu studieren, dann würde er es niemals bemerken. Dann könnte sie bei diesen Müttern zu Hause aufschlagen und ihnen rundheraus mitteilen, dass man sich, sollten es ihre Kinder weiterhin auf ihren Jungen abgesehen haben, vor Gericht wiedersehen würde. Schulmobbing war längst kein Fremdwort mehr. Wenn Amador nicht doch noch herausfand, dass die Schrift von einem Erwachsenen stammte, dann würde Victoria schon dafür sorgen, dass diese Mütter für die Streiche ihrer Kinder bezahlten. Deshalb ballte Victoria ihre Fäuste so fest, dass sich ihr die Fingernägel in die Handflächen bohrten, als Amador ihr mit einer geringfügigen Streckung des Rückens und einer leichten Drehung des Kopfes ankündigte, dass er gleich etwas sagen würde, das sie nicht hören wollte.
    »Ich verstehe nur nicht, warum sie Leos Namen nicht auf den Umschlag geschrieben haben.«
    »Praktisch jedes Kind ist in der Lage, eine Handschrift zu fälschen …«, platzte sie heraus, ohne ihrem Mann überhaupt zuzuhören.
    Währenddessen verarbeitete sie diese neue Information. Sie spürte, wie ihr eine gewaltige Kraft den Brustkorb zuschnürte, wie es ihr den Atem verschlug.
    »Seine Freunde«, fuhr Amador fort, »seine Klassenkameraden wissen doch, wie er heißt. Wenn ich einer von ihnen wäre, hätte ich Leos Namen klar und deutlich auf den Umschlag geschrieben. Ja, ich hätte ihn so fett daraufgeschrieben.« Er zeigte mit den Fingern die Größe an. »Damit es keinen Zweifel gibt, dass der Brief an ihn gerichtet ist.«
    Amador wusste, wovon er sprach. Er war damals, in seiner Schulzeit, einer von den Peinigern gewesen, die ein unschuldiges Opfer unterdrückt hatten. Eine vage Erinnerung, verblichen wie die alten Polaroids, die er in Schuhkartons in der Garage aufbewahrte, tauchte vor seinem inneren Auge auf: das Bild von Alma Blanco unter der Schulbank. Alma, die jetzt Leos Lehrerin war. In den ersten Jahren an der alten Dorfschule von Arenas waren sie in derselben Klasse gewesen. Damals wurden die wenigen Kinder noch in altersgemischten Klassen unterrichtet. Die Erinnerung an die kleine Alma war mit den Jahren etwas verblasst, aber er hatte noch die weiße Mädchenhand vor Augen, die sich an das Tischbein klammerte, so fest, dass ihre Knöchel blutleer waren. Er erinnerte sich, wie ihn seine Kameraden aufgefordert hatten, noch einmal mit dem Ball auf Alma zu zielen. Und er erinnerte sich auch an den gewaltigen Tritt, den er dem Ball verpasst hatte. Und an Almas Schreie. Das war nur eine der Szenen, die sich während der ersten gemeinsamen Schuljahre tagtäglich abspielten. Bis sie eines Tages, mitten im fünften oder sechsten Schuljahr, nicht mehr zum Unterricht erschien. So als hätte sich der Film seiner Erinnerung in einem alten Super-8-Projektor verheddert, begann sich das Bild der verschreckten Alma unter der Schulbank langsam aufzulösen. Da, wo eben noch das Mädchen gewesen war, saß jetzt Leo. Er hörte seine Schreie unter der Schulbank. Und sah, wie die Ballschüsse, die er selbst und vier seiner Mitschüler mit voller Wucht abfeuerten, gegen den Körper seines Sohnes prallten.
    »Was steht denn dann darauf?«, fragte Victoria. Sie wusste genau, was auf dem Umschlag stand, denn sie hatte es mindestens ein Dutzend Mal gelesen.
    »An einen neunjährigen Jungen«, las Amador noch einmal vor. »Na ja, Leo ist ja noch nicht ganz neun. Vielleicht ist der Brief gar nicht für ihn. Immerhin ist der letzte Schultag einen Monat her, er hat seine Kameraden seitdem nicht gesehen. Und außerhalb der Schule hat er ja keinen Kontakt zu ihnen.«
    Victoria stieß den Atem hörbar durch die Nase aus. Sie musste daran denken, wie Leo sie unten im Wohnzimmer angeschaut hatte, als sie ihn nach der Telefonnummer eines seiner Mitschüler gefragt hatte. Sie wollte die Beschuldigung seiner Klassenkameraden unter keinen Umständen fallen lassen:
    »Er hat gesagt, dass er ihn im Rucksack gefunden hat. Gut möglich, dass er ihn schon eine Weile mit sich herumträgt. Und dieses Datum, das in dem Brief steht, der …« Sie machte eine ungefähre Geste mit der Hand. »…

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