9 - Die Wiederkehr: Thriller
dazu. Sie stand erst auf, wenn es draußen schon dunkel war und die Vorhänge des kleinen Hauses am Ende des Feldwegs schon zugezogen waren. Jeden Abend ging sie zum Foto ihres Sohnes und küsste es. Die Reibung ihrer trockenen Lippen hatte mit den Jahren einen Teil des Gesichts ausgelöscht, so wie auch die kleinen, alltäglichen Erinnerungen an ihren Sohn allmählich aus ihrem Gedächtnis gelöscht wurden. Außerhalb des Zimmers dieser Mutter aber war das Ereignis zur Lieblingshorrorgeschichte der Kinder geworden. Die größeren gaben sie an die kleinen weiter, und die verschiedensten Versionen kursierten auf dem Schulhof, dem Fußballplatz, beim großen Churros-Essen am 20. August, dem Stadtfest, das alljährlich am See von Arenas gefeiert wurde, und nicht zuletzt vor den Türen des Open, wo sich die Schüler jeden Tag nach der Schule versammelten. Die Schüsse in jener Nacht waren zur Legende geworden, eine Geschichte aus der Gruft , die die Kinder Jahr für Jahr im Ferienlager neu erfanden, wenn sie abends ums Lagerfeuer saßen und sich Gruselgeschichten erzählten, wobei sie eine Taschenlampe im Kreis herumgehen ließen, um ihre Gesichter von unten zu beleuchten. Die Kleinen hatten Angst und blieben dem Laden fern. Wer nachmittags sein Fahrrad vor dem Open abstellte und sich da rumtrieb, gehörte zu den Großen. Und deshalb war Leo in den Augen seiner Mitschüler ein Angsthase, ein Hosenscheißer. Ein Opfer, das sich nicht wehren konnte. Ein Sonderling, der es einfach so hinnahm, dass man ihm einen Frosch in den Schuh legte. Ein komischer Vogel, der mit den Gedanken meistens irgendwo anders war und sich im Unterricht immer als Erster meldete. Ein Schwachkopf, der nicht einmal über einen Bock springen konnte und sich ständig Sorgen darüber machte, ob seine Krawatte richtig saß. Ein Feigling, der mit der Geschichte über den Todesfall im Open leicht zu verängstigen war. Und somit der perfekte Adressat für eine anonyme Morddrohung. Ein Vollidiot, den man damit ein ganzes Schuljahr lang einschüchtern konnte, vielleicht auch zwei oder mit ein bisschen Glück sogar drei.
»Ich weiß, dass diese Kinder dahinterstecken«, murmelte Victoria. Und wieder wurde sie von ihren eigenen Gedanken überlistet: Sieht die Handschrift nicht doch aus wie die eines Erwachsenen?
Amador las den Brief noch einmal genau durch, wie um sicherzugehen, dass sie nichts übersehen hatten.
»Damit kann man zur Polizei gehen«, sagte er nach einer Weile. Er blickte auf und sah seine Frau an. Dabei streckte er sein Kinn leicht nach vorn, eine Eigenart, die Victoria vor langer Zeit einmal sexy gefunden hatte. »Das ist Beweismaterial.«
Victoria lief mit kleinen Schritten vor ihm auf und ab. Mit jeweils zwei Fingern massierte sie kreisend ihre Schläfen. Sie malte sich aus, wie sie den Müttern dieser Bengel den Kopf waschen würde. Sollten sie mit dieser Sache ausnahmsweise nichts zu tun haben, umso besser. Diese Kinder hatten ihren Sohn schon genug gequält. Es war höchste Zeit, für ein wenig Ordnung zu sorgen. Amador studierte weiterhin den Brief, die Rückseite des Briefes, den Umschlag und das Innere des Umschlags. Von links oder von rechts, je nachdem, in welche Richtung Victoria gerade durchs Zimmer schritt, drang das Rascheln des Blattes, das er zusammenfaltete und wieder auseinanderfaltete, und des Umschlags, den er öffnete und wieder schloss, und dessen Kanten er mit dem Finger nachfuhr, an Victorias Gehör, all die Geräusche eines unfachmännischen Detektivs, die sich in Victorias Ohren anhörten wie ein schlechter Fernsehfilm im Nachmittagsprogramm auf maximaler Lautstärke. Geräusche, die sie daran hinderten, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, das sie mit diesen Eltern führen würde. Mit den Eltern, die diese gemeinen, hinterhältigen Kinder in die Welt gesetzt hatten, die imstande waren, einem Klassenkameraden einen solchen Schrecken einzujagen und sich auch noch darüber lustig zu machen.
»Amador!« Das Geräusch verstummte schlagartig. »Hör endlich auf damit. Hör bitte auf.«
Sie starrte weiter auf den Boden, während sie mit ihm sprach, und fuchtelte mit der Hand, mit der sie sich eben noch den Kopf massiert hatte, in seine Richtung. Diese Kinder waren es. Sie mussten es einfach gewesen sein. Amador konnte den Brief noch so genau lesen, er würde den Verfasser nicht herausfinden. Und Victoria war das ganz recht. Sie wollte nicht, dass sich ihr Mann noch länger damit abmühte, diese Schönschrift zu
Weitere Kostenlose Bücher