9 - Die Wiederkehr: Thriller
übertönte.
Auf dem Parkplatz fand Victoria Leo gegen das rechte Vorderrad des BMW gelehnt auf dem Boden sitzen. Er hatte den Kopf zwischen den Knien vergraben und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.
»Steh auf, sofort«, befahl sie.
Leo reagierte nicht.
»Muss ich erst richtig wütend werden?«
Trotz des eindringlichen Tonfalls seiner Mutter blieb Leo reglos am Boden sitzen.
»Du weißt, was dich dann erwartet.« Victoria kniete sich neben ihn hin. »Willst du jetzt wirklich wieder alles kaputt machen? In den letzten Monaten ist es doch ganz gut gelaufen.«
Sie packte Leo am Arm und schüttelte ihn, bis er schließ lich den Kopf hob und sie ansah.
Sie erbleichte.
Leos Gesicht war staubbedeckt, und auf den gelblichgrauen Wangen hatten die Tränen hautfarbene Furchen hinterlassen.
»Leo, Liebling, was ist denn los?« Sie untersuchte mit den Fingern den Kopf des Kindes und entdeckte eine blutige Stelle hinter den Ohren. »Du blutest ja!«
Leo zitterte wie an dem Tag, als er mit dem Luftpostumschlag in der Hand die Treppe zum Wohnzimmer hinuntergestiegen war.
Victoria streckte den Hals, um über die Dächer der parkenden Autos hinweg in alle Richtungen zu blicken, während sie mit beiden Händen den Kopf des Kindes stützte.
»Sag es mir.« Sie schluckte und versuchte mit letzter Kraft, sich zu beherrschen. Dann schrie sie doch los: »Sag mir jetzt sofort, was passiert ist!«
Der Schrei befreite Leo aus seiner Erstarrung. Vor Schreck sog er die Luft durch den Mund ein. Der Geschmack nach Staub auf der Zunge war ihm unangenehm. Er hustete. Sein Atem ging schnell, stoßweise. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte. Er zog den Kopf ein und vergrub die Hände zwischen den Beinen. Dann erst fiel sein Blick auf seine Mutter. Es war, als bemerkte er ihre Gegenwart erst jetzt. Victoria trocknete ihm Mund und Augen mit dem Handtuch, das noch immer um seinen Hals hing. Sie strich ihm die klebrigen Haarsträhnen aus der Stirn und wartete darauf, dass der Junge etwas sagte.
Doch Leo starrte seine Mutter nur schweigend an. Er ließ den Kopf sinken und stützte das Kinn auf die Brust. Er konnte sehen, dass ihr eine Ferse aus dem Schuh gerutscht war. Und dass sich in ihrer Strumpfhose, an der Stelle, wo das Knie auf dem steinigen Boden auflag, bereits eine Laufmasche gebildet hatte. Zu guter Letzt fiel sein Blick auf ihre angespannte rechte Wade.
»Also, Schatz, was ist passiert?«
Ihre Stimme zitterte. Dann verlor sie das Gleichgewicht, und das abgestützte Knie rutschte zur Seite weg. Ein paar winzige Kieselsteine bohrten durch die dünne Feinstrumpfhose in Victorias Fleisch.
»Mama«, begann der Junge.
»Was ist, Leo, was zum …?« Sie ließ die Frage unvollendet.
»Schon wieder.«
»Schon wieder was?«
Victoria ließ sich auf den Boden sinken. Sie hatte die blutende Wunde an ihrem Knie noch gar nicht bemerkt. Sie nahm das Gesicht ihres Sohnes in beide Hände und wischte ihm mit den Daumen die Tränen aus den Wimpern. Leo suchte den Blick seiner Mutter. Er spürte die Wärme, die von dem Autoreifen in seinem Rücken ausging. Er presste die Hände zusammen, die zwischen seinen Beinen steckten. Die spitzen Ellbogen bohrten sich in seinen Magen. Er konnte den Dreck in seinem Gesicht spüren, das Kratzen ihrer Hände auf der staubigen Haut. Er nahm den warmen Geruch von Orangensaft wahr, der aus ihren halb geöffneten Lippen strömte. Er zweifelte ein letztes Mal. Doch die warmen Hände und der Körper seiner Mutter verliehen ihm Mut. Er sagte:
»Mama, schon wieder.« Er hörte das Knacken in seiner Kehle, als er schluckte. »Der vierzehnte August.«
Eine plötzliche Kälte legte sich auf seine Wangen. Victoria hatte die Hände von seinem Gesicht genommen. Er roch ihren Atem nicht mehr. Aber er sprach trotzdem weiter.
»Eine Frau … war da … mit roten Haaren.« Er zog den Rotz hoch und schluckte. Ein süß-saurer Geschmack glitt seine Kehle hinunter. »Sie ist zu mir rübergekommen und … und … sie hat mir ihren Namen gesagt … aber ich weiß ihn nicht mehr … ich kann mich nicht mehr erinnern, Mama. Aber sie hat das Gleiche gesagt. Das, was in dem Brief steht.« Er hielt das Schluchzen zurück, das ihm in der Kehle steckte. Zwei große Tränen drohten ihm aus den Augenwinkeln zu rinnen. »Sie hat … Es war das gleiche Datum. Und dann … dann ist sie ganz schnell weggefahren. Mama, es war derselbe Tag … der vierzehnte Aug …«
Die schallende Ohrfeige ließ ihn zu Boden
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