9 - Die Wiederkehr: Thriller
blicken, bevor er überhaupt zu Ende gesprochen hatte. Unwillkürlich zuckte er mit den Schultern. In seinem linken Ohr begann es laut zu pfeifen. Die drei roten Kratzer, die Victorias Fingernägel in seinem Gesicht hinterlassen hatten, sollten erst kurze Zeit später sichtbar werden.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er seine Mutter vor sich auf dem staubigen Boden sitzen, das Gesicht in die rechte Hand gestützt. Ihr Blick wanderte erst zu ihm, dann auf den Boden und dann irgendwo anders hin. Die Lippen presste sie so fest aufeinander, dass sie fast weiß waren. Leo konnte das Schluchzen nicht länger zurückhalten. Als es jetzt aus ihm hervorbrach, richtete sich der Blick Victorias wieder auf ihn und verweilte dort, ohne dass sie sonst eine Gefühlsregung preisgab. Sie betrachtete ihn einige Sekunden, vielleicht waren es auch Minuten.
»Eine Frau, ja?«, platzte es aus ihr heraus. »Eine rothaarige Frau ist zu dir gekommen und hat dir das Gleiche erzählt, was in dem Brief stand, den du selber geschrieben hast. Ist es das, was du mir sagen willst? Ja?« Sie hatte die Stimme gedämpft, sprach aber schneller als sonst. »Na prima!« Sie klatschte in die Hände. »Gut. Dann wollen wir sie mal suchen gehen. Weit kann sie ja noch nicht sein. Da sie ja wohl nicht fliegen kann, oder?«
Sie überlegte kurz und fügte dann hinzu:
»Oder kann sie vielleicht doch fliegen? Da du dir das ja wohl alles ausdenkst, sag mir doch bitte, ob diese Frau fliegen kann oder nicht.«
Victoria erhob sich mühsam. Während sie sich den Staub von der Kleidung klopfte, bemerkte sie auch das Loch in der Strumpfhose und die kleine Wunde am Knie, aber sie beachtete sie nicht weiter. Sie zupfte die Schulternaht ihres Blazers zurecht und zog sich den Schuh wieder richtig an. Dann setzte sie sich die Sonnenbrille auf, die sich in ihrem Haar verheddert hatte, und streckte Leo die Hand hin. Angesichts der Passivität des Kindes, das noch immer vor dem Autoreifen kauerte und sie nur schweigend anstarrte, packte sie Leo am Handgelenk und zog ihn mit aller Kraft hoch. Dann öffnete sie die Beifahrertür, zwang Leo einzusteigen und knallte die Tür zu. Der Geruch nach Leder stieg Leo in die Nase. Victoria ging um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer. Sie riss sich den Blazer vom Leib und warf ihn auf die Rückbank, bevor sie ohne sich anzuschnallen losfuhr. Eine Staubwolke stieg hinter ihnen auf, als sie aufs Gas trat.
»Na los, dann hilf mir mal suchen!« Victoria öffnete die beiden vorderen Fenster. »Zeig mir die Frau!«
Sie fuhren die Zufahrtsstraße zum Aquatopia wieder zurück. Ein paar letzte Nachzügler, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten, kamen ihnen entgegen.
»Wo ist sie bloß?« Victoria bewegte den Kopf demonstrativ von einer Seite zur anderen. »Ist es vielleicht die Alte da?« Sie deutete mit dem Kinn auf eine Fußgängerin. »Ah nein, die hat ja weiße Haare. Die ist es nicht. Wir suchen eine Rothaarige. Wir suchen eine Rothaarige!«, brüllte sie.
Victoria trat das Gaspedal voll durch.
»Mama, bitte!«, sagte Leo.
»Liebling, ich möchte dir ja gerne glauben.« Sie lächelte künstlich, um die Ironie der Aussage zu betonen. Leo schwieg. »Und darum will ich die Frau jetzt auch sehen. Sag mir, wo diese Frau ist! Jetzt!«
Sie atmete tief durch, um sich wieder etwas zu beruhigen. Die folgenden Worte waren kaum mehr als ein Flüstern:
»Deine Mutter möchte nämlich mit ihr sprechen.«
Carlos Ferrero und Héctor Mirabal, die an jenem sonnigen Februartag durch die friedlichen Straßen von Arenas Streife fuhren, sahen, wie ein weißer BMW viel zu schnell in einen Kreisverkehr einbog.
»Ist die nicht ein bisschen zackig dran?«, bemerkte Carlos beiläufig.
»Na ja, so schnell auch wieder nicht«, erwiderte Héctor, der gerade den letzten Bissen seiner Brotzeit vertilgte. »Sie kommt aus dem Aqua. Wahrscheinlich hat ihr die neue Attraktion nicht gefallen.«
Beide lachten und hofften, der Wagen würde die Stadt bald über die Schnellstraße verlassen. Dann wäre er wenigstens nicht mehr ihr Problem. Es hatte in Héctors Leben eine Zeit gegeben, in der er seine Fähigkeit zu lachen für immer verloren geglaubt hatte. Doch heute ließ er keine Gelegenheit mehr dazu aus. Und der Tag war einfach zu schön, um ihn sich mit einem lästigen Bußgeldbescheid zu verderben.
Victoria bog auf die Ausfallstraße ab und legte noch einen Zahn zu.
»Ich höre dich nicht, Schatz! Wo ist diese verdammte Frau?«,
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