9 - Die Wiederkehr: Thriller
schrie sie so laut, dass Leo sie auch über das ohrenbetäubende Tosen hören konnte, das der Wind beim Zirkulieren durch die offenen Fenster erzeugte.
Ihre Haare schlugen gegen die Wagendecke und die Kopfstütze. Ihre Sonnenbrille fiel in den Spalt zwischen Sitz und Tür. Und die vom Wind aufgeblasene Bluse hing ihr schräg auf den Schultern.
Sie gab Gas. Der Motor brüllte, das Lenkrad begann heftig zu vibrieren. Victoria hielt sich nicht damit auf, in einen anderen Gang zu schalten.
Dann stieg sie ohne Vorwarnung und ohne vorher einen Blick in den Rückspiegel zu werfen auf die Bremse. Das Quietschen der Reifen erinnerte an eine Herde wiehernder Pferde. Die schwarze Bremsspur auf dem Asphalt sollte noch lange zu sehen sein. Victoria riss das Lenkrad herum und kam kurz vor dem Ortsschild, das sie aus Arenas de la Despernada verabschiedete, auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Das Alter hatte dem Schild ordentlich zugesetzt. Alle Buchstaben waren nur noch halb zu sehen, so als wären sie zur Hälfte im Sand vergraben.
Victoria umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen. Ihr Blick war starr geradeaus auf den Asphalt gerichtet. Sie bat ihren Sohn, aus dem Auto auszusteigen.
»Willst du mich jetzt hier stehen lassen?«, erkundigte sich Leo.
»Ich fahre nicht weg!«, antwortete sie gereizt. »Für wen hältst du mich eigentlich? Aber ich will, dass du jetzt aussteigst. Je-etzt.« Das letzte Wort sprach sie so aus, als handelte es sich um zwei.
Leo kletterte schweigend aus dem Wagen und ließ die Tür einen Spalt offen. Victoria beugte sich hinüber und zog sie mit einem Ruck zu. Dann vergrub sie das Gesicht in den Händen.
Draußen auf dem Asphalt brach Leo, der über und über mit Staub bedeckt war, der kalte Schweiß aus. Sofort begann er zu frösteln. Drei tiefrote Kratzer brannten auf seiner Wange. Der Junge stand am Straßenrand neben dem Wagen und betrachtete durch das Seitenfenster die bebenden Schultern seiner Mutter.
11
AARÓN
Montag, 29. Mai 2000
Auf dem Plastikschildchen am Kragenaufschlag waren die letzten Buchstaben des Namens Canal kaum noch zu lesen, und von der Initiale des Vornamens, auf die früher einmal ein Punkt gefolgt war, war nur noch eine ausgeblichene rote Serife sichtbar.
»Seit zwei Jahren will ich dieses Drecksteil schon erneuern«, kam ihm Isaac Canal zuvor, als er Aaróns fragenden Blick sah. »Ich weiß gar nicht, wozu ich das Ding überhaupt noch trage. Jeder in der Fabrik weiß, wer ich bin, und dass ich hier das Sagen habe. Aber wie war das noch mit dem guten Beispiel? Wenn ich das Schild nicht mehr trage, stell dir dann mal die Kuckucks vor …«, sagte er. »Wie dem auch sei, ich habe nur eine halbe Stunde. Ich würde dir raten, die Zeit zu nutzen.«
Aarón warf einen flüchtigen Blick auf die Handgelenke des Mannes.
»Glaubst du im Ernst, ich hätte noch Lust, eine zu tragen, nach dreißig Jahren in einer Uhrenfabrik?«
Der Tisch, an dem sie saßen, befand sich in einem abgetrennten Winkel der Fabrikhalle, die Isaac Canal als Büro nutzte. Er war übersät mit Zetteln, Schrauben in unterschiedlichen Größen, runden und viereckigen Uhrrahmen, Hunderten von winzigen Zeigern, die Canal in einer Stecknadelbox aufbewahrte, und sonstigem Uhrmacherzubehör. Hinter der Werkhalle erhob sich die Uhrenfabrik. Lange Zeit war die Fabrik das einzige Gebäude an jenem vergessenen Abschnitt der Schnellstraße gewesen. Doch im Zuge der explosionsartigen städtebaulichen Entwicklung hatten sich in der Umgebung der Fabrik zahlreiche Werke und Niederlassungen angesiedelt, bis der Ort schließlich zu einem der zentralen Industriegebiete im Nordwesten der Provinz Madrid wurde.
»Ich danke Ihnen für …«, begann Aarón.
»Keinen Dank bitte. Nach meinem Vater hat schon lange niemand mehr gefragt. Und nach meinem Großvater erst recht nicht. Nur deshalb nehme ich mir die Zeit. Aus keinem anderen Grund.« Er deutete auf einen Punkt jenseits von Aarón. »Nur diese hinterste Wand der Fabrik gehört zu Arenas, und mehr möchte ich mit dem Kaff auch nicht zu tun haben. Schrecklicher Ort, oder?« Die Frage war nicht als solche gemeint. »Und trotzdem habe ich fünfzig von euch bei mir angestellt. Das ist mehr, als die Stadt je für mich getan hat. Der Chef der Personalabteilung kommt aus Arenas, und er ist besonders gut darin, seine Nachbarn in der Fabrik unterzubringen.« Canal griff nach dem weißen Plastikbecher, der vor ihm auf dem Tisch stand, und nahm einen Schluck von einer braunen
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