9 - Die Wiederkehr: Thriller
die Aktionen unserer Gemeinde unterstützen müssen. Ich bin Anwältin, und ein Tag wie heute, an dem ich mich ein bisschen entspannen und den Arbeitsstress beiseitelassen kann, kommt mir sehr gelegen«, erklärte Victoria, als hätte sie die Ansprache auswendig gelernt.
»Und du, Leo, bist du schon gespannt, wie die neue Rutsche aussieht?«, wandte sich die Reporterin wieder dem Jungen zu.
»Nein. Ich bin hier, weil meine Mutter unbedingt herkommen wollte. Sie sagt, dass ich Freunde finden soll.«
Die Hand der Mutter auf seiner Schulter verkrampfte sich merklich, aber sie wagte nicht zuzudrücken.
»Ach, das glaube ich dir nicht!«, scherzte die Frau. »Du hast doch bestimmt einen Haufen Freunde, so ein sympathischer Junge wie du!«
Eine unsichtbare Hitze strömte von oben auf Leo ein. Es war der sengende Blick seiner Mutter. Selbst wenn er für den Rest des Schuljahres jeden Nachmittag mit einem Fremden in ein Sprechzimmer mit ledergepolsterten Möbeln eingesperrt wäre, um sich selbst davon überzeugen zu lassen, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung sei, würde er diesen Blick, den er zwar nicht sah, aber um so deutlicher spürte, jetzt zum allerletzten Mal über sich ergehen lassen.
»Ich bin ein bisschen seltsam, wissen Sie«, sagte er.
Für den Betrachter sah es so aus, als käme der Satz aus seinem Mund, tatsächlich aber entsprang er dem tiefsten Innern seiner Seele. Den Aufschrei seiner Mutter empfand Leo als Triumph. Die Hand auf seiner Schulter drückte ihn nach unten und zwang ihn, sich herumzudrehen. Victoria ging in die Hocke und sah ihm in die Augen. Wenn es auch kurz den Anschein hatte, als würde sie ihm vor laufender Kamera die Leviten lesen, so kam ihr doch kein einziges Wort über die Lippen. Leo bemerkte nur ein leichtes Zittern ihres Kinns. Victoria richtete sich wieder auf und ließ ihn los. Sie kehrte ihm den Rücken zu und wandte sich wieder an die Reporterin. Die Frau hatte Leos unerwarteter Antwort mit einem Lächeln begegnen wollen, sich es dann aber schnell anders überlegt, als sie die wütende Mutter sah.
Leo beobachtete, wie seine Mutter leise mit der Reporterin sprach. Er beobachtete auch, wie sie zwei Zehneuroscheine aus der Tasche zog. Er wusste, was sich gerade abspielte.
»Einen für jeden von Ihnen«, sagte Victoria und wedelte mit den Geldscheinen. Leo war jetzt nur noch ein Statist im Hintergrund der Szene. »Einen für Sie, und einen für Sie, wenn Sie mir versprechen, dass Sie das Interview nicht senden.«
Die Reporterin war die Blicke von Frauen wie Victoria gewöhnt, ehemalige Klassenschönheiten, die es bis heute nicht gelernt hatten, sich die Überlegenheit nicht anmerken zu lassen, die sie verspürten, wenn sie hässlichen, dicken Frauen gegenüberstanden – eine Kategorie, zu der sie sich selbst zählte. Nur deshalb nahm sie den Geldschein entgegen, bevor sie antwortete:
»Señora, wir sind vom Lokalfernsehen. Eine einfache Bitte hätte es auch getan.«
Die Reporterin steckte das Geld ein und schenkte Victoria ein flüchtiges Lächeln. Dann zwinkerte sie Leo noch einmal zu und wandte sich ab.
Victoria ging zu ihrem Sohn zurück, ohne ihn anzusehen.
»Wir fahren nach Hause«, sagte sie.
Da fiel ihr ein, dass Leo gar nicht hatte herkommen wollen. Dass er Angst hatte, seinen Klassenkameraden zu begegnen. Dass er die ganze Zeit mit gesenktem Blick hinter ihr hertrottete. Sie kniete sich wieder vor ihn hin und sah ihm fest in die Augen.
»Nein, mein Lieber, es ist doch besser, wir bleiben hier.«
Sie gingen auf die lange Schlange zu, in der ganze Großfamilien auf den Einlass warteten, und stellten sich hinten an. Vor ihnen strahlte sie ein Baby über die Schulter seines Vaters an. Die rothaarige Frau, die zuvor mit Leo zusammengestoßen war, lief noch einmal an ihnen vorbei. Sie streifte Victoria an der Schulter.
»Die hat wohl schon genug«, raunte Victoria verächtlich.
Sie verlagerte das Gewicht ungeduldig von einem Bein auf das andere. Als sie plötzlich genervt mit der Zunge schnalzte, wusste Leo, was passieren würde. Sie packte seine Hand und zog ihn hinter sich her, an der Schlange vorbei nach vorne.
»Es wird hier doch irgendeinen Bekannten geben, der uns diese dämliche Schlange erspart.«
Als sie vorne ankamen, kehrten sie um und liefen denselben Weg wieder zurück. Victoria starrte in die gelangweilten Gesichter der Eltern, die ihre aufgeregt umherhüpfenden Kinder im Zaum hielten. Eine Lautsprecherdurchsage verkündete die Öffnung der Tore
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