9 - Die Wiederkehr: Thriller
aufgenommen, als wäre sie immer noch das siebenjährige Mädchen, das er damals heulend in der Verandatür hatte stehen lassen, während ihre Mutter vergeblich versucht hatte, sie mit einem Glas Orangenlimonade abzulenken. Sie musste zusehen, wie ihr Vater von zu Hause auszog, ohne zu begreifen, warum ihre Mutter ihrem Vater nicht einfach verzeihen konnte.
»Danke für dein Verständnis«, sagte Andrea beherrscht. Sie hatte gelernt, sich zusammenzunehmen, allein, weil sie das Gefühl hatte, auf ewig in Emilios Schuld zu stehen, obwohl seine korrekte Art sie fast zur Weißglut brachte.
»Aber warum musstest du unbedingt mit dem Auto fahren? Bis nach Arenas sind es fast achthundert Kilometer. Hättest du am Nachmittag den Flieger genommen, wärst du jetzt schon da.«
Andrea wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Auch nicht, wie sie ihm erklären sollte, dass ihr der Beginn des Jahres 2009 einen richtigen Schrecken eingejagt hatte. Dass sie deshalb, an einem x-beliebigen Morgen plötzlich irgendetwas hatte tun müssen, und zwar sofort nach dem ersten Bissen von ihrem Toast, während der Wetterbericht im Radio ein kaltes Wochenende vorhersagte. Ja, sie hatte einfach aufstehen, sich ins Auto setzen und losfahren müssen. Nur dass es gar kein x-beliebiger Morgen war, sondern der Morgen vor dem letzten Samstag im Februar 2009. Denn sie wusste, dass alle Kinder aus der Stadt an diesem letzten Samstag im Aquatopia sein würden.
»Ich wollte auf dem gleichen Weg hinfahren, wie ich von dort weggefahren bin. Über Land«, improvisierte sie auf dem Rücken liegend.
Sie streckte den Arm aus und hielt das Telefon so weit wie möglich von sich weg, als fürchtete sie, sich das Gesicht daran zu verbrennen.
»Na, dann ist ja alles gut.«
Sie hörte Emilios metallische Stimme wie aus der Ferne.
Zum Kotzen.
»Wir reden morgen. Ich muss unter die Dusche«, gelang es ihr zu antworten.
Jetzt, so kurz vor Arenas, kostete es sie eine unglaubliche Kraftanstrengung, die Lawine von Erinnerungen abzuwehren, die wie lauter kleine Steinchen auf sie einprasselten. Sie würde jetzt keinen Ton mehr herausbringen, so viel war klar.
»Ist gut. Und fahr vorsichtig«, ermahnte er sie. »Und ruf mich an, wenn du angekommen bist. Ich liebe dich.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf. Darum hörte er auch den Laut nicht, der aus Andreas Magen heraufstieg und sich ungefähr so anhörte wie das Stöhnen gewisser Tennisspielerinnen beim Aufschlag.
Als Andrea am nächsten Morgen aufwachte, war sie nicht sicher, ob sie geschlafen hatte oder nicht. Ohne auch nur einmal in den Spiegel zu sehen, verließ sie das Hotel und stieg ins Auto. Mit beiden Händen umklammerte sie das Lenkrad. Dann hielt sie sich die Nase an die linke Schulter und schnupperte. Immerhin hatte sie nicht geduscht. »Zieh dein T-Shirt aus, ich will dich im BH Auto fahren sehen«, erinnerte sie sich an Aaróns Worte. Emilio hatte noch nie so etwas zu ihr gesagt. Armer Emilio.
Andrea ließ den Motor an.
Ein knappe halbe Stunde später tauchte zu ihrer Linken die alte Uhrenfabrik Canal auf. Schon anhand der frisch gestrichenen Fahrbahnmarkierungen hatte sie begriffen, dass neun Jahre locker ausreichten, um sich in der Stadt, die einmal ihre Heimat gewesen war, wie eine Fremde zu fühlen. Doch die kaputten Buchstaben, die von dem Schriftzug der Fabrik herunterhingen, weckten erneut Erinnerungen in ihr. Düstere Erinnerungen, die all die glücklichen Jahre auszulöschen drohten, die sie in der Stadt verbracht hatte. Erinnerungen an Tage ohne Kraft und Lebensfreude, die sie letztlich dazu bewogen hatten, die Stadt zu verlassen, damit nicht alles zerstört wurde, was sie mit Arenas verband.
Komm ins Wasser.
Sie trat energisch aufs Gaspedal, um die Gedanken zu vertreiben. Plötzlich erinnerte sie sich an keinen einzigen der Gründe mehr, die sie am Morgen des vorigen Tages dazu gebracht hatten, alles stehen und liegen zu lassen und sich auf den Weg nach Arenas zu machen.
Kurz hinter der Fabrik tauchte, diesmal zur Rechten, das Ortsschild von Arenas de la Despernada auf. Unwillkürlich nahm sie den Fuß vom Gas. Sie ließ die Fenster herunter und genoss die kühle Luft, die ihr ins Gesicht schlug. Und sie musste sich noch einmal ganz klar vor Augen führen, warum sie hier war.
»Du wirst diesen Jungen suchen. Du wirst ihm genau das sagen, was Aarón ihm unbedingt sagen wollte. Und dann fährst du wieder. Das ist alles«, sagte sie laut zu sich selbst. Sie musste es
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