9 - Die Wiederkehr: Thriller
aus einem anderen Grund alle Muskeln seines Körpers verkrampften. Victoria holte tief Luft. Sie blickte auf die Adresse auf dem Umschlag und stieß die Luft durch den Mund wieder aus.
Eine Minute verharrte sie schweigend.
Amador verzog keine Miene, auch Leos Blick erwiderte er nicht.
Dann schließlich sah Victoria ihren Mann an und sagte:
»Ist für dich.« Sie warf ihm den Brief mit einer geschickten Bewegung des Handgelenks zu. »Wer zum Teufel schreibt dir denn aus San Francisco?«
»San Francisco?«, fragte er.
Wäre sie aufmerksamer gewesen, hätte sie gemerkt, dass das Gesicht ihres Mannes so rot wurde wie schon lange nicht mehr. Zumindest nicht, wenn er sie ansah.
Amador nahm den Umschlag. Seine Hände waren kalt. Um der Sache etwas von ihrer Bedeutung zu nehmen und Misstrauen im Voraus zu vermeiden, öffnete er den Brief an Ort und Stelle und vor aller Augen. In dem Umschlag steckte ein Foto. Das gleiche wie immer. Ein Foto von einem Café in der Lombard Street, wo sie sich damals kennengelernt hatten, er und María, die mexikanische Schriftstellerin, für die er sich nicht hatte entscheiden können. Nur das Foto. Kein einziges geschriebenes Wort.
»Ach, nur eine Postkarte von meinem Zimmergenossen aus dem Studentenwohnheim«, log Amador. »Er wird diesen Sommer heiraten«, erfand er.
Rasch steckte er das Foto zurück in den Umschlag und ließ ihn in der Gesäßtasche verschwinden. Er fürchtete, Victoria könnte den Brief am Ende doch noch sehen wollen. Später würde er den Umschlag wieder hervorholen und ihn in tausend kleine Stücke zerreißen. Die Schnipsel würde er in den Mülleimer rieseln lassen, den er dann kräftig schüttelte. Auf diese Weise würden die Schnipsel unter den Toastresten des Frühstücks verschwinden, wie auch die Erinnerung an das Liebesabenteuer unter einem Haufen unerfüllter Träume begraben blieb. Das zumindest war sein Plan. María gab sich weiterhin alle Mühe, damit Amador sie nicht vergaß. Und zu diesem Zweck schickte sie einmal im Jahr, oder vielleicht auch nur alle zwei Jahre, die immer gleiche Aufnahme des immer gleichen Cafés.
»Du kannst ganz beruhigt sein, Sohnemann. Es war überhaupt nichts«, wandte er seine Aufmerksamkeit jetzt dem Jungen zu.
Leo entdeckte eine neue Färbung in der Stimme seines Vaters.
»Falsch«, sagte Victoria. »Leo war ganz ruhig. Er wusste ja, dass der Brief nicht für ihn sein konnte, hab ich recht? Du hast keinen zweiten geschrieben, also konnte das auch keine … wie sollen wir es nennen? … keine weitere Todeswarnung sein.«
Da landete ein schwarzer Schatten neben Leo auf dem Frühstückstisch und ließ die Tassen auf den Untertassen scheppern. Victorias Sektglas, das noch zur Hälfte mit Orangensaft gefüllt war, geriet auf seinem kreisrunden Boden ins Wanken und fiel um. Sein Inhalt ergoss sich über Victorias Bluse, und Victoria, die schnell eine Hand auf ihren Push-up-BH legte, holte mit der anderen aus und verpasste Pi einen Schlag auf die Schnauze. Unter lautem Miauen und mit einer heftigen Bewegung, die das Chaos auf dem Tisch erst perfekt machte, sprang der Kater wieder auf den Boden.
»Leo!«, schrie Victoria. »Linda!«
Die Haushaltshilfe war bereits zur Stelle und bemühte sich, das Ausmaß der Katastrophe in Grenzen zu halten. Leo und Amador halfen ihr dabei. Victoria stand einige Schritte vom Tisch entfernt und war damit beschäftigt, eine Serviette in ein Wasserglas zu tunken und die Flecken auf ihrer Bluse abzutupfen. Die anderen stapelten die Teller aufeinander. Linda entfernte die Tischdecke, indem sie die Enden nach innen klappte. Amador machte Anstalten, einen der Stapel in die Küche zu tragen, warf jedoch gleich noch zwei Gläser zu Boden bei dem Versuch, sie zwischen die Finger zu nehmen. Linda bat ihn, sich keine großen Umstände zu machen.
»Leo hilft mir schon«, sagte sie. Wie immer, wenn sie etwas sagte, klang es nach einer Entschuldigung. »Stimmt’s, Leo? Komm mit mir in die Küche«, sagte sie zu ihm. »Lass deine Eltern mal ihren freien Vormittag genießen.«
Victoria war so beschäftigt mit ihrem eigenen Unglück, dass sie nicht einmal in den Dialog der Hausangestellten mit ihrem Sohn eingriff. Amador, der in der Tat seinen freien Vormittag genießen wollte, ließ zu, dass Leo Linda beim Aufräumen half. Sie brauchten nur zweimal zu gehen, bis der Tisch abgedeckt war und Victoria und Amador zu ihren jeweiligen morgendlichen Beschäftigungen zurückkehren konnten. Er widmete sich
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