9 - Die Wiederkehr: Thriller
sie die Treppe herunterkam. »Linda?«
Leo kostete es einige Überwindung, sich von Lindas warmem Körper zu lösen, er benahm sich wie ein kleiner Welpe, der zu früh aus dem Körbchen genommen wird. Dann ging er blitzschnell in die Knie, nahm den Brief und steckte ihn in den Umschlag. Dabei fiel ihm auf, dass dem Umschlag eine Ecke fehlte. Das Klackern der Absätze kam rasch näher. Linda strich die Laken glatt und schüttelte das Kopfkissen auf.
Als Victoria den Kopf in das Zimmer steckte, stand Leo mit dem Rücken zu ihr vor den Fotos über Lindas Bett.
»Ist das die Flagge von El Salvador?«, fragte Leo wieder und versuchte, die Erregung zu verbergen, die ihm die Stimme zu ersticken drohte.
»Ja«, antwortete Linda, »das ist sie.«
Die Stimme versagte ihr in der Kehle. Die angsterfüllten Augen des Jungen ließen sie wieder an ihre beiden kleinen Mädchen denken. Sie spürte Victorias stechenden Blick im Rücken.
»Verzeiht, wenn ich eure Geografiestunde unterbreche.« Sie betrat den Raum und klopfte mit einer Hand gegen die Zimmerdecke, so als wollte sie damit zum Ausdruck bringen, dass sie der niedrige Raum beengte. »Darf man erfahren, was du hier machst?«
»Ich wollte wissen, wie …«
»… die Flagge von El Salvador aussieht«, unterbrach ihn Victoria und sah sich in dem winzigen Zimmer um. »Verstehe. Aber weder du noch ich müssen uns hier unten im Keller aufhalten.« Sie packte Leo am Arm und sagte: »Komm, ich möchte, dass du dir anschaust, was deine Katze jetzt wieder gemacht hat.«
Leo blickte ein letztes Mal zu Linda, die sich nicht traute, etwas zur Señora zu sagen. Dann stieg er, dicht gefolgt von seiner Mutter, die Treppe zur Küche hinauf. Die drei Ecken des Umschlags, den er im Gummizug seiner Schlafanzughose festgeklemmt hatte, piksten ihn in den Bauch.
Sie durchquerten die Küche in Richtung Garten. Leo spürte die kalte Hand seiner Mutter, die ihn mit sich zog. Das Herz pochte ihm heftig in der Brust, und die Angst ließ ihn vor Kälte erstarren.
Er hatte Lust zu schreien und zu weinen. Aber er würde es nicht vor ihr tun. Hätte Victoria ihrem Sohn ins Gesicht gesehen, anstatt auf den Boden unter dem Tisch zu starren, an dem sie gefrühstückt hatten und von wo die feuchten Milch- und Kakaospuren bis ins Wohnzimmer und über den weißen Perserteppich führten, dann hätte sie die Blässe in Leos Gesicht gesehen und den Blick, der ins Leere ging, als wäre er außerstande, der Realität, die vor ihm lag, ins Auge zu blicken. Victoria nahm nichts davon wahr, während sie Leo anschrie und ihm die zahlreichen braunen Pfotenabdrücke zeigte, die Pi auf seiner Flucht vom Tatort auf dem Teppich hinterlassen hatte. Die Stimme seiner Mutter drang nur dumpf an Leos Ohren, und seine Bewegungen waren wie verlangsamt durch die Anstrengung, seine Panik diesmal vor den Eltern zu verbergen. Als Victoria mit ihren Zurechtweisungen fertig war, die Leo an sich vorüberziehen ließ wie die ständigen Beleidigungen in der Schule, hob er den Blick und sah seine Mutter an.
»Es tut mir leid«, sagte er, »ich werde mit Pi schimpfen.«
»Nach diesem Vorfall«, sagte Victoria, während sie in den Garten hinausging und sich neben Amador stellte, der nach wie vor auf seinem Platz saß und das ganze Theater mit einem Knoten im Magen verfolgt hatte, »sind dein Vater und ich«, – dabei legte sie beide Hände auf die Schultern ihres Mannes – »zu dem Schluss gekommen, dass wir die Katze weggeben sollten.«
Leo rannte ins Haus und hinauf in sein Zimmer. Vergeblich rief ihm sein Vater hinterher. Pi hatte sich ihm unterwegs angeschlossen. Leo knallte die Tür hinter sich zu und verbarrikadierte sie mit einem Stuhl, den er zwischen Boden und Türklinke klemmte, obwohl das nicht nötig gewesen wäre, weil überhaupt niemand versuchte, die Tür zu öffnen. Dann ließ er sich aufs Bett fallen, das mittlerweile in der prallen Sonne stand. Pi sprang zu ihm hoch und legte den Kopf auf seinen Bauch.
»Warte«, sagte er zu dem Kater.
Er zog den Umschlag aus der Schlafanzughose. Das Papier flatterte, so sehr zitterten seine Hände. Er betrachtete den Umschlag. Dann fuhr er mit dem Finger über die fehlende Ecke. Er musste mehrmals heftig blinzeln, um die Augen von den Tränen zu befreien. Noch einmal las er seinen Namen. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Auf dem ersten Brief hatte nicht sein Name gestanden. Und er glaubte sich zu erinnern, dass ihn auch die rothaarige Frau nicht mit seinem Namen
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