9 - Die Wiederkehr: Thriller
antwortete Amador und nahm einen Schluck von seinem Kaffee, ohne von der Zeitung aufzublicken. »Da passiert nichts. So, wie die Sonne heute herunterbrennt, ist der Rasen gleich wieder trocken.«
Nachdem er die Tasse wieder auf dem Tisch abgestellt hatte, klappte er die Zeitung zu und suchte mit beiden Daumen eine bestimmte Seite. Schließlich zog er eine Doppelseite heraus und faltete sie in der Mitte. Er legte sie vor Leo auf den Tisch, gleich neben den Teller mit den beiden Marmeladentoasts.
»Guten Morgen, Commander. Da, für dich. Und hier hast du einen Kugelschreiber.« Er zog einen Stift aus der Hemdtasche und legte ihn auf das Sudoku.
»Was meinst du, wie schnell schaffe ich es heute?«, fragte Leo.
Neben ihm löffelte Linda Kakaopulver in eine Tasse. Leo bedeutete ihr mit einem heimlichen Kopfnicken, dass er noch mehr haben wollte. Sie gab noch einen stark gehäuften Teelöffel dazu und goss schnell die lauwarme Milch darüber. Sie wusste, dass sich die Señora ärgern würde, wenn sie davon Wind bekam. Sie mussten beide lächeln.
»Wenn du länger als drei Minuten brauchst, heißt das, dass deine Leistung nachlässt.«
»Jetzt frühstückst du erst einmal«, mischte sich Victoria ein. »Zum Spielen ist nachher immer noch Zeit. Du musst ja schon ganz ausgehungert sein, nachdem du gestern nichts zu Abend essen wolltest.«
Leo stellte die Tasse beiseite und nahm den Kugelschreiber. Er beugte sich über das Zeitungsblatt, stützte die Stirn in eine Hand und fing an, Zahlen daraufzukritzeln, die er kurz darauf wieder durchstrich oder ausbesserte. Manche Zahlen notierte er außerhalb des Spielfelds, andere trug er gleich in das Quadrat ein. Manchmal starrte er eine Weile auf eines der leeren Kästchen und schrieb dann mit großer Sicherheit eine Zahl hinein. Am Ende ging er mit dem Kugelschreiber jede einzelne Zeile des Gitters durch und bewegte dabei leicht die Lippen. Dann erst ließ er den Stift sinken und schlug mit der Handfläche auf den Tisch, so als aktiviere er den Buzzer in einer Fernsehquizshow. Amador überprüfte das Sudoku, wie es eine Lehrerin mit der Schularbeit ihres bestens Schülers getan hätte. Er zog die Augenbrauen hoch und steckte die Seite wieder in die Zeitung zurück.
»Und jetzt wird gefrühstückt, mein Freund, die Marmelade ist nämlich wirklich köstlich.«
Leo nahm einen großen Schluck von seinem Kakao. Er genoss das flüchtige Glücksgefühl, das ihm der Geruch von Kakao bescherte. Ähnlich erging es ihm mit dem Duft nach Kamille. Mit einem braunen Milchbart auf der Oberlippe biss er in seinen Toast. Er spürte die Kühle der Pfirsichmarmelade auf der Zunge.
»Wie ich sehe, geht es dir heute besser«, meldete sich Victoria zu Wort. »Hast du gut geschlafen?«
Leo nickte. Obwohl es gelogen war. Den zweiten Bissen brachte er schon kaum mehr hinunter.
»Schatz.« Victoria machte es sich in ihrem Stuhl bequem, nahm die Brille von der Nase und steckte sie sich oben auf den Scheitel. »Gestern war nur der erste Tag. Deine Weigerung, mit dem Psychologen zu sprechen, erschwert nur …«
»Victoria«, fiel Amador ihr ins Wort. »Lass ihn jetzt erst mal in Ruhe zu Ende frühstücken.«
»… macht die Sache nur komplizierter«, beendete sie den Satz.
Sie schob sich die Brille wieder auf die Nase und betrachtete Amador durch die getönten Gläser. Dabei trommelte sie mit den Fingern auf den Tisch. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder den gleichförmigen Bewegungen der Rasensprenger.
Da kam Linda noch einmal zu ihnen an den Tisch. Sie legte einen Stapel Post etwas näher bei Amador auf den Tisch. Zwischen dem großen gelben Umschlag der neuesten Ausgabe des National Geographic , den Amador immer noch abonniert hatte, weil er schlichtweg keine Zeit fand, das Abo zu kündigen, und dem neuen Venca-Katalog mit den aktuellen Sommertrends, der an Victoria Huelva adressiert war und immer ungeöffnet im Altpapier landete, entdeckten Victoria, Amador und Leo die blau und rot geränderte Kante eines Luftpostumschlags.
Alle drei schwiegen.
Victoria nahm die Brille ab. Sie blickte zu ihrem Sohn. Dann zu ihrem Mann. Leo starrte seinen Vater mit weit aufgerissenen Augen an. Die Angst schlug ihm sofort auf den Magen. Amador wartete darauf, dass Victoria den Umschlag nahm. Ohne den Blick von Leo abzuwenden, streckte sie den Arm aus. Sie versuchte das Gesicht ihres Sohnes zu entschlüsseln, den Ausdruck, von dem sie nicht glaubte, dass es Angst war. Sie glaubte vielmehr, dass sich
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