9 - Die Wiederkehr: Thriller
haben.«
»Jetzt nimm die Münze. Du wirst schon sehen, wie sich der Spieß eines Tages umdreht.«
Leo bedankte sich und nahm die Münze. Mit der anderen Hand hob er die Schuhe vom Boden auf. Dann hüpfte er einmal kurz, um sich den Rucksack wieder richtig auf die Schultern zu setzen, lächelte dem Mann noch einmal zu und wandte sich zum Gehen. Mittlerweile schien ihm die Hitze draußen kein so großes Übel mehr zu sein, im Gegenteil. Nach dem kalten Steinboden freute er sich sogar darauf. Der Verkäufer hatte seine Aufmerksamkeit wieder den Schülern zugewandt, die sich immer noch draußen vor dem Laden tummelten. Als er einen weißen BMW vorfahren sah, pfiff er laut durch die Zähne.
»Eines Tages«, sagte er sich, »eines Tages.«
Die automatische Schiebetür ging auf und gab Leo den Weg frei.
Er setzte einen Fuß nach dem anderen auf den heißen Boden. Da entdeckte er das Auto seiner Mutter neben einer der Zapfsäulen. Er seufzte erleichtert. Dann sah er, dass sie ihn von oben bis unten musterte. Aus der Entfernung und durch die Fensterscheibe war sich Victoria nicht ganz sicher, ob ihr Sohn tatsächlich barfuß war. Leo blickte beschämt zu Boden.
In dem Moment traf ihn der Strahl. Der Schaum schoss ihm in die Nase und bis in den Rachen. Seine Nasenlöcher brannten. Er hustete und konnte nicht mehr atmen. Ein süßer Geschmack breitete sich auf der Zunge aus. Die Wimpern klebten zusammen. Das linke Auge, das der Strahl ungebremst getroffen hatte, begann krampfartig zu zucken. Der Schmerz war brutal. Als die Flüssigkeit in den Gehörgang vorstieß, war ihm, als fräße sich ihm ein Nagetier durchs Gehirn.
In dem verzweifelten Versuch, Luft zu holen, öffnete er den Mund.
Der zweite Strahl drang durch die Kehle in seinen Körper. Er fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen. Heftiger Brechreiz überkam ihn. Eine große Menge Flüssigkeit wurde in hohem Bogen wieder ausgestoßen. Es war nicht so, als würde er sich übergeben, die Flüssigkeit floss einfach durch seinen Körper: zuerst rein, und dann wieder raus.
Als er wieder in der Lage war, die Augen zu öffnen, sah er Edgar, der sich vor Lachen am Boden kugelte. Zwei leere Flaschen Coca-Cola Light drehten sich am Boden neben ihm um sich selbst. Schramme lachte ebenfalls. Und Claudia. Sie biss auf dem Stiel ihres Zitroneneises herum, stand bei ihren drei Freundinnen und zeigte mit dem Finger auf ihn. Die Zahnspange eines Mädchens blitzte in der Sonne.
Die Flüssigkeit verdampfte in der Hitze sofort. Zurück blieb ein klebriger Film auf Leos Haut. Sein Gesicht fühlte sich an wie gegerbt. Sein weißes Hemd war braun eingefärbt. Die Schuhe entglitten seinen Fingern und fielen auf den Boden. Eine neue Welle des Gelächters drang gedämpft an sein verstopftes Ohr. Auch die Münze, die er gerade erst geschenkt bekommen hatte, fiel herunter und rollte über den Asphalt.
Als er es wagte, wieder zu seiner Mutter hinüberzuschauen, sah er, dass sie sich die Hand vor den Mund hielt.
Leo legte den Weg zum Auto zurück, ohne auf die Benzinpfützen zu achten, die seine nackten Füße beschmutzten.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich so mitnehme«, begrüßte ihn seine Mutter, als er eine der hinteren Türen öffnete. »Schau dich mal an! Du bist ja voller … Und deine Füße … Du gehst auf dem Fußweg, ich fahre neben dir her. Aber zieh dir die Schuhe an, du willst dich doch nicht auch noch verletzen.«
Am letzten Schultag vor den großen Ferien ging Leo neben dem Auto seiner Mutter her zu Fuß nach Hause. Mit der linken Hand klammerte er sich an die Beifahrertür, das durchnässte Hemd klebte an seinem Körper. Jeder einzelne Schritt in den von Wasser, Coca-Cola und Benzin völlig durchweichten Schuhen war eine Qual.
Als sie nach Hause kamen, ging Leo sofort nach oben ins Bad und wusch sich. Danach sperrte er sich in seinem Zimmer ein. Er schlug sein Buch über Astronomie auf und vertiefte sich in die Lektüre. Wenn es auch eher eine Form der Flucht war.
Als es draußen dunkel wurde, las er immer noch. Ihm knurrte der Magen. Er beschloss hinunterzugehen und seine Eltern zu bitten, am Abendessen teilnehmen zu dürfen. Er war sich nicht sicher, ob seine Mutter es ihm erlauben würde. Als er den Stuhl unter der Türklinke herauszog, klingelte das Telefon zum ersten Mal. Beim vierten Klingeln nahm Victoria das schnurlose Telefon aus der Station im Wohnzimmer.
»Ja, bitte?«, hörte Leo seine Mutter sagen, als er die unterste Treppenstufe
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