9 SCIENCE FICTION-STORIES
Leichentuch. Und nie wieder tanzen können, ohne mich an sein plötzliches Auftauchen zu erinnern. Wie ich ihn haßte! Oh, wie ich ihn haßte!
Allein an einer Stelle zu tanzen, wo niemand mich kannte, das war meine einzige Flucht vor der Miß Kew, die die anderen kannten. Vor der Frau, die ins Viktorianische Zeitalter gepaßt hätte, vor der Frau, die älter aussah, als sie war. Die korrekt war, gestärkte Schürzen, Spitzen und Leinen trug, und die einsam war. Jetzt würde ich wirklich die sein, für die sie mich hielten, durch und durch, für immer und ewig, weil er mir das einzige Geheimnis geraubt hatte, das ich zu besitzen wagte.
Er kam hinaus in den Sonnenschein und trat auf mich zu, wobei er seinen großen Kopf ein wenig schief hielt. Ich blieb stehen, wo ich zu tanzen aufgehört hatte, steif vor Haß und Furcht. Mein Arm war noch ausgestreckt und meine Hüfte gebogen.
Er sagte: »Liest du Bücher?«
Ich konnte es nicht ertragen, daß er mir so nahe kam, aber ich konnte mich auch nicht von der Stelle rühren. Er streckte seine harte Hand aus und berührte mein Kinn. Er drehte meinen Kopf herum, bis ich ihm ins Gesicht sehen mußte. Ich wich vor ihm zurück, aber mein Gesicht schmiegte sich an seine Hand, obwohl er mich nicht sehr fest hielt. »Du mußt ein paar Bücher für mich lesen. Ich habe keine Zeit, sie zu suchen.«
»Wer sind Sie?« fragte ich ihn.
»Lone«, erwiderte er. »Wirst du die Bücher für mich lesen?«
»Nein. Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich los!«
Er lachte mich aus. Er hielt mich gar nicht fest.
»Was für Bücher?« rief ich.
Er hob mein Gesicht ein wenig an, sehr behutsam. Ich mußte noch mehr zu ihm aufsehen. Er ließ seine Hand sinken. Seine Augen, die Iris – sie begannen sich zu drehen …
»öffne mir dein Inneres«, sagte er. »Ich will nachsehen.«
In meinem Gedächtnis waren Bücher, und er untersuchte die Titel. Nein, nicht die Titel, denn lesen konnte er nicht. Er sah nach, was ich von den Büchern wußte. Plötzlich kam ich mir schrecklich nutzlos vor, denn ich hatte nur einen Bruchteil dessen, was er brauchte.
»Was ist das?« fragte er rauh.
Ich wußte, was er meinte. Er hatte es aus meinem Innern gezogen. Ich hatte selbst nicht einmal mehr gewußt, daß es drinnen war, aber er zerrte es ans Licht.
»Telekinese«, sagte ich.
»Wie macht man das?«
»Niemand weiß, ob man es überhaupt fertigbringen kann. Man bewegt reale Dinge mit dem Verstand.«
»Man kann es«, sagte er kurz. »Und das da?«
»Teleportation. Das ist das gleiche – nun, fast das gleiche. Man kann den eigenen Körper auf Befehl des Verstandes an irgendeine andere Stelle bewegen.«
»Ja, ja, ich weiß schon«, sagte er brummig.
»Molekulardurchdringung. Telepathie und Hellsehen. Ich weiß nicht viel darüber. Das Ganze kommt mir albern vor.«
»Lies darüber. Es ist egal, ob du es verstehst oder nicht. Was ist das?«
Es war in meinem Gehirn, es kam auf meine Lippen. »Gestalt.«
»Was bedeutet das?«
»Gruppe. Man könnte sagen, eine Heilmethode für verschiedene Krankheiten. Oder viele Gedanken, in einem Satz ausgedrückt. Das Ganze ist größer als die Summe der Einzelteile.«
»Darüber lies auch nach. Besonders darüber. Es ist sehr wichtig, verstehst du?«
Er wandte sich ab, und als sich sein Blick von mir löste, war es wie ein Schlag. Ich stolperte und fiel auf die Knie. Er ging zurück in die Wälder, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich nahm meine Sachen und rannte nach Hause. Ich war wütend, und die Wut schüttelte mich wie ein Sturm. Ich hatte Angst. Ich wußte, ich würde die Bücher lesen, und ich wußte, ich würde zurückgehen, und ich wußte, ich würde nie wieder tanzen.
So las ich die Bücher und ging zurück. Manchmal kam ich drei oder vier Tage hintereinander, und manchmal, wenn ich ein bestimmtes Buch nicht finden konnte, vielleicht erst nach zehn
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