999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
besonders hervor. Der Ausdruck auf dem Antlitz der Jungfrau war nicht eindeutig – als wolle die Jungfrau ein Geheimnis verbergen und es nur mit dem Maler teilen. Pico schaute nach links und beobachtete Savonarola, wie er die aufrichtigen Komplimente der Gläubigen entgegennahm. Zu seinen Predigten kamen immer sehr viele Menschen aus den verschiedensten Schichten der Gesellschaft – Adelige saßen mit Kaufleuten und dem einfachen Volk gemeinsam auf den Bänken. Der Mönch hatte zahlreiche Anhänger in Florenz, was die kirchlichen Würdenträger misstrauisch gemacht hatte. Sie fürchteten seine wachsende Popularität. Überhaupt wunderte sich Pico, dass der Mönch bei all dem, was er über die römische Kirche sagte, noch nicht seines Amtes enthoben war.
Giovanni ging auf ihn zu und wartete, bis der Geistliche Zeit für ihn hätte. Unbeeindruckt verteilte der Mönch jedoch weiter Ermahnungen und Segnungen, während seine spitze Hakennase den Bittstellern die Erde zu zeigen schien, auf der sie zu knien hatten. Pico brauchte dringend seinen Rat, denn der Brief, den er aus Rom erhalten hatte, verlangte nach einer Entscheidung.
Als Savonarola endlich allein war, zog er seine Kapuze über den Kopf und ging in die Sakristei zurück. Als er etwas hinter sich bemerkte, wandte er sich nicht um, sondern sagte nur gleichmütig: »Wenn Ihr derjenige seid, der ich glaube, dann haben meine Worte keine Wirkung auf Euch gehabt.«
»Eure Worte sind scharf wie die Klingen Toledos, aber der Schutzpanzer Eurer Freundschaft ist noch viel stärker.«
Der Mönch drehte sich zu ihm um, nahm die Kapuze ab und zeigte seine von dichtem schwarzem Haar umrahmte Tonsur. Der wilde Haarkranz ließ ihn beinahe wie einen Biber aussehen.
»Was ist mit Eurer goldenen Lockenpracht geschehen?«, fragte er Giovanni, ohne zu lächeln.
»Sie gehört in ein anderes Leben. Ich bin nun ein neuer Mensch, denn ich habe die Geometrie kennengelernt«, antwortete Pico.
»Lasst Platon in Ruhe, Ihr seid in der Kirche und steht vor einem Diener Gottes. Ihr habt einen Bart. Seid Ihr hier, um Mönch zu werden?«
»Das werde ich tun, sobald Savonarola einen Ehrenplatz im Palazzo della Signoria hat.«
»Passt auf. Ihr habt gerade ein Gelübde abgelegt!«
»Und ich werde es respektieren.«
»Warum seid Ihr also nach so langer Zeit erschienen, wenn Ihr nicht Mönch werden wollt und meine Worte keinerlei Wirkung auf Euch haben?«
»Um unserer Freundschaft willen. Und weil ich einen guten Rat benötige.«
»Das Erste kann ein Freund gewähren, das Zweite ein Beichtvater. Was braucht Ihr?«
»Beides. Mehrere Eigenschaften in einer Person zu vereinen ist möglich und erstrebenswert.«
»Ihr seid blasphemisch und ohne Ehrfurcht! Umarmt mich, Giovanni. Seit langer Zeit habe ich nicht mehr solche Freude empfunden, wenn ich einem Menschen wiederbegegnet bin.«
Sie verließen die Sakristei und gingen auf die grünen Wiesen, denen der Frühling blühende Mandelbäume und die ersten Brustbeeren beschert hatte. An den Wiesenrändern blühten die Mimosen so gelb, dass sie aus purem Gold zu sein schienen, das die florentinische Republik mit vollen Händen an ihre Bürger verteilte. Pico überragte den Mönch mit fast einer Spanne. Von weitem konnte man Savonarola für einen alten, buckligen Mönch halten, obwohl er nur 35 Jahre zählte.
Die Wucht der Worte seines jungen Begleiters hatte den Ordensmann beeindruckt. »Vergesst den Freund: Wenn ich Euch nicht als Beichtvater anhöre, befürchte ich, werde ich eines Tages verraten müssen, was Ihr mir anvertraut. Ihr seid wahnsinnig, Giovanni. Euer Geist ist verwirrt durch die Sünde des Hochmuts.«
»Ihr kennt mich wie kein anderer. Ich habe mir diesen Weg nicht ausgesucht. Vielmehr hat der Weg mich ausgesucht. Glaubt mir, Girolamo, alles ist wahrhaftig, logisch und voller Liebe.«
»Auch wenn es so wäre – was ich allerdings nicht glaube – würdet Ihr es wagen, Christus und seine Taten über Bord zu werfen?«
»Alles muss in einem neuen Licht betrachtet werden, und keine seiner Taten steht im Gegensatz zu seinem Beispiel. Die Liebe ist die Mutter, Girolamo, und wir sind ihre Kinder.«
»Ihr flucht, und damit kann ich Euch keine Absolution erteilen.«
»Ich möchte nicht Eure Absolution, ja, ich verlange nicht einmal, dass Ihr mir Glauben schenkt, ohne zu lesen und zu vertiefen, woüber ich mit Euch sprach. Ich möchte aber Euer Verständnis, denn Ihr kennt die Liebe, und ich meine nicht die Liebe zu Gott, sondern
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