999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
Stirn zu schweigen.
Ferruccio hatte bemerkt, dass man ihn beobachtete und dass das gezischte Gemurmel im Saal sich auf ihn bezog. Wenn ihn jemand ansah, hielt er dem Blick stand, zwar nicht herausfordernd, aber doch mit einer gewissen Herablassung. Ab und zu deutete er wortlos ein grüßendes Lächeln an, ohne jemanden Bestimmten zu meinen, und verstärkte so den Eindruck, aus der Fremde zu kommen.
Die Frau neben ihm flüsterte etwas in sein Ohr. Ihre Worte waren leise, aber deutlich zu vernehmen. Für alle sah es so aus, als würde sie ihm in seiner Muttersprache erklären, was gerade vor sich ging. Das schwarze Kleid und die elegante, nur von einer Perlenkette zusammengehaltene Haartracht verschleierten weder ihr Jugend noch ihre Schönheit, obwohl sie bereits Witwe zu sein schien.
Leonora hatte große Augen gemacht, als Ritter de Mola am Tag der Bücherverbrennung bei ihr aufgetaucht war. Sie hatte sich schon alles Mögliche überlegt, wie sie Ferruccio warnen könnte, als er wie ein Engel – oder ein herbeigeflehter Dämon – einfach erschien. Sie hatte ihm alles über die pompöse Vermählung des Papstsohns mit Magdalena de’ Medici in der Petersbasilika erzählt. Der Trauungszeremonie waren Festivitäten, wie man sie seit den Zeiten des Imperiums nicht mehr gesehen hatte, in ganz Rom gefolgt. Sie hatte ihm erzählt, was man im Volk über den immer größer werdenden Einfluss von Kardinal Borgia tuschelte, den man mittlerweile geminus Innocentii , den Zwilling des Papstes, nannte. Dann erzählte sie ihm von der Bücherverbrennung und dass der Name Giovanni Pico eingegangen sei in die Liste der Häretiker. Aber de Mola schien bereits alles zu wissen. Also wunderte sie sich nicht, dass er ihr ein wunderschönes, reich besticktes schwarzes Kleid gab und sie bat, ihn in den Lateran zu begleiten. Ein adliges Paar würde sich unauffälliger unter die anwesenden Patrizier mischen können, um der Urteilsverkündung durch die päpstliche Kommission beizuwohnen. Dort, erklärte Giacomo, könnten sie sich unmittelbar und aus erster Hand die Anschuldigungen gegen die Neunhundert Konklusionen von Giovanni Pico anhören und abschätzen, wie groß die Gefahr wirklich war, in der sich der Graf befand.
Ein Herold verkündete den Einzug der Kommission, die an einem großen Tisch, an dem 15 Stühle standen, Platz nehmen würde. Als die Theologen den Saal betraten, erhob sich das zahlreich erschienene Publikum voller Respekt. Viele der Kommissionsmitglieder trugen die Kutten der Dominikaner – sie waren am unerbittlichsten und darum die gefährlichsten. Ferruccio erkannte unter ihnen den Albionenhasser Pedro Garcia, Bischof von Ales und Kappelan von Rodrigo Borgia. Er setzte sich an die Mitte des Tisches und ergriff das Wort.
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, sagte er und hielt kurz inne, bis sich alle bekreuzigt hatten, »und Ihrer Heiligkeit, Papst Innozenz VIII. Diese Kommission wurde gerufen, die Neunhundert Konklusionen des berühmten Grafen Giovanni Pico della Mirandola und Concordia einer Prüfung zu unterziehen. Unsere guten Brüder haben mit reiner und klarer Seele die genannten Konklusionen gelesen, sie studiert und disputiert. Mit Hilfe des Heiligen Geistes, der Heiligen Römischen Kirche, aller Heiligen, Erzengel, Cherubine und Serafine ist die Kommission nun zu einer Entscheidung gelangt.«
»Endlich«, flüsterte Ferruccio Leonora ins Ohr, und sie musste ein Lächeln hinter dem Schleier verbergen, den sie sich vor die Lippen hielt.
»Die These, dass die Seele von Christus nicht in die Hölle hinabgestiegen ist«, tönte Pedro Garcia, »ist falsch und ketzerisch. Es ist falsch und ketzerisch, dass die Todsünde nicht mit dem Fegefeuer geahndet werden kann. Und es ist nicht nur gegen die guten Sitten, sondern auch für fromme Ohren skandalös und beleidigend, dass man das Kreuz nicht anbeten solle. Die These, dass uns keine Wissenschaft besser als die der Magie und der Kabbala von der Göttlichkeit Jesu Christi überzeugen kann, ist unwahr, falsch und häretisch.«
Viele der Anwesenden hatten die Köpfe auf die Brust gesenkt, um zu verbergen, wie tödlich langweilig sie diesen Sermon fanden und wie schläfrig sie der salbungsvolle und anklagende Ton von Bischof Garcia machte: Wenn ein Argument besonders heikel war, wurde er tragisch oder triumphierend, und mit nervtötender Vehemenz ermahnte er, unbedingt zu glauben und auf Gott zu hoffen, um die Seele – nicht aber das Gewissen
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