999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
Freundschaft mit Giovanni zu Ohren gekommen war: War das vielleicht der Grund, warum er seine Dienste nicht mehr in Anspruch nahm? Wie auch immer. Es war besser so, und das, was er gerade für Giovanni und Leonora tat, befriedigte ihn umso mehr: Er fühlte sich lebendig, nützlich und wichtig. Allerdings verfluchte er sich, dass es ihm nicht gelungen war, Leonora von der Folter mit dem Pendel fernzuhalten. Sie war sich nicht im Klaren gewesen, wie schrecklich diese Folter war. Er kannte diese Methode nur zu gut – mit ihr konnte man selbst die widerspenstigsten Spione zum Reden bringen. Der Gefolterte verlor bereits nach wenigen Minuten die Orientierung, der Geist wurde schwach, und am Ende verlor er vollkommen den Verstand. Was hatten die Mönche mit der Folter einer Prostituierten bezwecken wollen? Das einzige Geständnis, das man von ihnen bekommen konnte, war, dass sie sich fleischlichen Genüssen mit dem Teufel hingegeben hatten. Hexen, Teufel, böse Geister und Folter – in Rom hatte die Jagd auf Frauen begonnen, und wenn er Leonora nicht bald fortbrächte, würde auch sie zur Beute werden.
Mehr denn je musste er sich auf sein Pferd und sein Schwert verlassen. Mit den Goldmünzen in seinem Säckchen hätte er ein ganzes Regiment kaufen und mit ihm den Annona-Kerker erstürmen können. Es hätte sicher mehr Spaß gemacht, den »teuren Poeten«, wie Giovanni Benivieni in einem Brief genannt hatte, mit einem Kavallerieangriff zu befreien – es wäre aber mit Sicherheit nicht die beste Methode gewesen. Gold war der stille Schlüssel, um jedes Gefängnis zu öffnen, und kein Wachkommandant würde der Farbe des Reichtums widerstehen können.
Florenz
Dienstag, 19. Oktober 1938
Die letzten acht Tage war Elena von Arcangela aufgepäppelt, verwöhnt und beschützt worden. Dafür hatte diese sogar ihr Gewerbe vernachlässigt. Ihr Zuhälter, der sich um seine Geschäfte Sorgen machte, war bei Arcangela aufgetaucht, aber sie hatte ihm nur mit ihren hochhackigen Schuhen auf den Kopf gehauen; so war er kleinlaut wieder abgezogen und hatte sich sogar bei ihr entschuldigt. Elena hatte darauf bestanden, wenigstens die Hälfte der Miete zu bezahlen, aber es war nichts zu machen.
»Für mich war es fast wie ein kleiner Urlaub«, hatte Arcangela ihr gesagt, »und es tut mir gut, wenn ich mich um jemanden kümmern kann.«
Seit ihrem letzten Treffen mit Zugel hatte Elena weder von ihm noch von Giovanni etwas gehört. Arcangela war zweimal am Antiquariat vorbeigegangen, aber die Rollläden waren nach wie vor heruntergelassen, und die Post lag vor der Eingangstür auf dem Boden. Giovanni machte ihr jedoch am meisten Sorgen. Wenn er wirklich nicht dazu in der Lage gewesen war, den Befehl auszuführen, hatte er bestimmt schon alles gebeichtet. Es war Elena klar, dass sie sich in einer schwierigen Lage befand, denn sie wusste zu viel und hatte versagt. Zugel könnte jeden Moment bei ihr auftauchen, und diesmal würde es kein Pardon geben – er würde sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit umbringen. Normalerweise hätte sie sich in einem solchen Fall ihre Ersparnisse geschnappt und wäre nach Frankreich oder Südamerika abgehauen. Irgendwie hätte sie sich dort schon zurechtgefunden. Aber diesmal war alles anders. Sie hatte es sich zwar nie träumen lassen, aber nun musste sie es sich eingestehen: Sie hatte Angst. Und zum ersten Mal stellte sie sich Giovanni nicht wie eine einfache Beute, sondern als Mann vor, der sie geliebt hatte. Seinetwegen befand sie sich nun in tödlicher Gefahr. Dumm. Starrköpfig. Süß. Elena wusste, dass sie schwach geworden war, aber sie konnte nichts dagegen tun. Sie verspürte das verzweifelte Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden. Aber es hätte ihr leidgetan, Arcangela, die in diesem Moment die Einzige war, die ihr die Hand gereicht hatte, in diese Angelegenheit mit hineinzuziehen. Auch das war ein Zeichen von Schwäche.
»Meine Liebe, du machst dir viel zu viele Gedanken. Du musst dich von ihnen befreien. Komm, hier ist deine Arcangela, die sich um dich kümmert.«
Elena schaute auf das Tablett mit dem Caffé Latte und dem noch warmen Brioche und übergab sich.
»Na! Elena, du trägst doch wohl nicht etwas Kleines in dir?«
Sie beschloss, Arcangela zu beichten.
»Ja, so ist es«, sagte Elena leise.
»Von diesem Kerl, der dich auch noch geschlagen hat! Und nun will er, dass du es wegmachen lässt, nicht wahr?«
»Ja«, log Elena.
»Du willst es aber
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