999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
schien, als seien sie einem makabren Totentanz oder einer Freske des Jüngsten Gerichtes entsprungen. Ferruccio wusste, was nun geschehen würde, und versuchte, Leonora wegzuziehen. Aber es war nichts zu machen: Wie in Trance beobachtete Leonora das Geschehen und stellte sich wahrscheinlich vor, dass einer der geschundenen Körper ihrer hätte sein können.
Eine der Frauen wurde losgekettet und an Händen und Füßen gefesselt. Sie schrie, spuckte voller Verachtung vor ihren Peinigern aus und wurde sofort brutal von einem der Mönche geohrfeigt. Einen Augenblick später stopften sie ihr einen Lappen in den Mund, um sie am Weiterschreien zu hindern. Die Frau wehrte sich jedoch weiter – so lange, bis sie, die Stille mit ihrem Stöhnen unterbrechend, der Länge nach hinfiel. Die anderen Frauen schienen nicht einmal mehr die Kraft zum Atmen zu haben.
Die Mönche kamen gemessenen Schrittes auf die widerspenstige Frau zu, hoben sie hoch, und das Letzte, was Ferruccio sah, waren ihre vor Angst weit aufgerissenen Augen, bevor sie mit Gewalt in den Sack gesteckt wurde. Vier Mönche positionierten sich darum herum und zogen den Sack so hoch, dass er gerade noch den Boden berührte. Dann begannen sie, ihn wie ein Pendel hin und her zu schwingen. Schließlich brachten sie den Sack dazu, sich um sich selbst zu drehen. Im Inneren des Sackes zappelte es wild; für die Zuschauer sah es so aus, als würden in ihm zwei Katzen miteinander kämpfen.
Ferruccio zerrte Leonora aus der Kirche, und diesmal ließ sie ihn gewähren. Draußen hatten sich bereits Horden von Bettlern versammelt und hofften, dass das Gewissen der Leute, die dem Spektakel beigewohnt hatten, genügend gequält worden war, um ihnen ein paar Almosen zu gewähren. Ferruccio holte eine Münze hervor und warf sie einem Bettler zu, dessen Hände mit Lumpen umwickelt waren.
»Gott sei mit Euch«, murmelte dieser.
Leonora hatte in der Hand des Bettlers eine Silbermünze glänzen sehen. Sie war immer noch verstört und durcheinander, aber sie hatte diese Geste trotzdem bemerkt.
»Ihr habt ihm eine venezianische Lira gegeben. Sie wird ihm für einen Monat zum Leben reichen, wenn er sie heute Abend nicht in irgendeinem Gasthaus verprasst.«
»Es ist wahrscheinlicher, dass er seinem Weib ein Geschenk macht.«
»Wie meint Ihr das?«
»Er ist einer meiner Männer, und ich bezahle ihn gut«, sagte Ferruccio. »Er hat die Aufgabe, uns aus der Ferne zu beobachten. Wenn ich stehen bleibe und ihm ein Almosen gebe und er mir antwortet mit ›Gott sei mit Euch‹, dann heißt das, es besteht keine Gefahr. Wenn er mir jedoch antwortet ›Möge der Herr Euch beschützen‹, dann bedeutet es, dass uns jemand beobachtet und verfolgt. Oder noch Schlimmeres. Aber heute haben wir nichts zu befürchten.«
* * *
Leonora sagte auf dem Nachhauseweg kein einziges Wort. Ferruccio erntete nur einen gemurmelten Dank, als er sie kurz und beinahe entschuldigend anhob, um ihr eine große faulige Schlammpfütze zu ersparen. Er blieb nicht zum Essen, und während er der Magd Anweisungen gab, beobachtete Leonora ihn misstrauisch. Erneut las er Graf Mirandolas Brief und verbrannte ihn dann. Ferruccio verabschiedete sich von Leonora und verließ die Wohnung. Hinter dem Haus stand in einem angrenzenden Stall sein Pferd, ein starker Neapolitaner mit breitem Kopf und grauem Fell. Ferruccio hatte das Pferd seit Tagen nicht mehr geritten; um es gefügig zu machen, gab er ihm etwas Zucker und einen Apfel. Anfangs verweigerte das nervöse Tier seinen Sattel und wollte ihn auch nicht aufsitzen lassen. Es drehte immer wieder den Kopf nach ihm um, so als würde es ihn nicht mehr wiedererkennen.
»Nun bereitest du mir auch noch Sorgen«, murmelte er und streichelte seinen robusten Hals, »aber ich muss mich auf dich verlassen können.«
In leichtem Trott ritt er Richtung Appia Nuova und Sant’Andrea. Die de’ Medici hatten dort vor kurzem eine kleine Bank für Kaufleute und Geldverleiher eröffnet. Zahlreiche Wachen, die vor dem Gebäude positioniert waren, hielten Banditen und Bettler fern. Graf Mirandola hatte dort für Leonora und Ferruccios Bedürfnisse ein beachtliches Konto auf Ferruccios Namen eröffnen lassen. De Mola brauchte allerdings nichts. Seine Dienste in Lorenzos Auftrag hatten ihm weit mehr eingebracht, als er erwartet hatte – obwohl ihm Lorenzo seit Monaten keinen Auftrag mehr anvertraute.
Der letzte war der Schutz des Grafen gewesen. Ferruccio fragte sich, ob Lorenzo seine
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