999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
verlieren, wenn ich dann die anderen neunundneunzig Thesen vorstellte, die mir, wie du ganz richtig sagst, wirklich etwas bedeuten.«
»Ich bin kein Stratege, aber so, wie ich dich verstanden habe, willst du deine Thesen nur deshalb vor dem Papst verteidigen, um zu zeigen, dass du stark bist. Selbst wenn du aus dem Disput als Verlierer hervorgehen solltest, hättest du der Welt aber doch gezeigt, dass du von ihrer Ernsthaftigkeit überzeugt bist. Und das wiederum würde deine Glaubwürdigkeit in Bezug auf die anderen Thesen untermauern.«
»Ja! Ihr seid wirklich zwei Genies. Worin liegt aber der Sinn von alldem, Giovanni? Willst du dich wirklich für eine Idee umbringen lassen?«
Leonora schaute beide an, stand auf und ging in ihr Zimmer, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Den Frauen wohnt mehr Weisheit inne als uns, Giovanni. Und manchmal sehen sie klarer.«
»Ja, ich weiß. Und genau aus diesem Grund möchte ich die göttliche Mutter bekannt machen. Die Welt soll von ihrer Liebe erfahren, von ihren Prinzipien, und sie soll verstehen, weshalb und wie genau sie langsam verschwand. Erst als der Mensch einen Gott nach seinem Ebenbild erschuf, gab es Krieg und Missbrauch. Ich möchte der Menschheit Hoffnung geben. Und nur die Frau, das feminine Prinzip, ist dazu fähig.«
Rom
Ostersonntag, 15. April 1487
Als die Sonne aufging, machten sich in den Gassen und Straßen Roms Männer und Frauen auf den Weg. Wortlos gingen sie in Gruppen oder als Paare zu der nächstgelegenen Kirche und warteten, dass sich die Tore öffneten. In jeder Kapelle und in jeder Basilika waren die Christusstatuen auf den Katafalken befestigt worden, um die Auferstehung des Herrn zu feiern. Auserwählte Männer nahmen die Statuen auf ihre Schultern und trugen sie durch die Straßen Roms. Vor ihnen schritten Weihrauch schwenkende Ministranten und hinter ihnen Mönche, Ordensbrüder, Prälaten und Nonnen – und dann, ganz am Ende, die Gläubigen. Viele Pfarrer trugen weiße Gewänder und beteten in einem obskuren Singsang vor den Christusstatuen geheimnisvolle Dankgebete.
Nach der Prozession kehrten die Menschen wieder in ihre Häuser zurück. Wer es sich leisten konnte, aß ausgebackene Schafskutteln, Salami oder wenigstens ein geweihtes hartgekochtes Ei. Um zwölf Uhr begannen die Glocken zu läuten, die die Wiederauferstehung ankündigten. Wieder verließen die Menschen ihre Häuser, um in ihrer Festtagskleidung der heiligen Messe beizuwohnen. Niemand durfte an diesem Tag fehlen – denn sich vom Körper Christi zu nähren war Pflicht an diesem Tag. Wer nicht am Heiligen Abendmahl teilnahm, beging eine Todsünde, die das ewige Fegefeuer nach sich ziehen würde. An jeder Ecke standen bewaffnete Papstgardisten, als wollten sie die Menschen erinnern, den Ritus einzuhalten.
Allein um die öffentliche Ordnung zu wahren, schienen die Gardisten jedoch nicht zu patrouillieren – dazu waren es zu viele. Ferruccio hatte Recht gehabt – in Rom hatte sich vieles geändert. Giovanni konnte nur langsam voranschreiten, denn er hatte eine alte Magd dabei, die er am Arm mit sich führte. Ferruccio hatte nicht mit sich reden lassen.
»Ich weiß, dass ich dich nicht daran hindern kann, dich mit Margherita zu treffen, vorausgesetzt, ihr findet euch in dem Getümmel auf den Straßen. Aber gehe wenigstens mit einer Dienerin aus dem Haus. Ein Edelmann, der am Ostersonntag alleine zur Messe geht, fällt auf – ja, er erscheint sogar verdächtig. Zu zweit nimmt keiner Notiz von euch.«
Giovanni gab nach. Die Alte wurde hergerichtet und ihr ein anständiges, ihrem Alter entsprechendes Kleid angezogen. Ferruccio hatte ihr eingebläut, dass sie Giovannis Anweisungen unbedingt zu folgen habe und dass sie vor den Augen der Leute so tun sollte, als wäre er ihr Sohn.
Es war der dritte Aprilsonntag, und die drittnächste Kirche hinter dem Petersdom war die Sachsenkirche, wo sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Die Alte beklagte sich über Giovannis Tempo. Ihre Hüftgelenke und das ungewohnte Schuhwerk machten sie langsamer. Der Graf, der ohnehin bereits unter ihrem langsamen Gang litt, nahm sie noch fester am Arm und zog sie kurzerhand mit sich.
Erst an der Tiberanlegestelle Porto dei Travertini vor dem imposanten Palazzo Salviati, wo die Menschenmassen an die Flussmauern strömten, war Giovanni gezwungen, sein Tempo zu verlangsamen. Er erlaubte der Alten, sich hinzusetzen, und lehnte sich ebenfalls über die Mauern. Beinahe wäre er von einem Karren
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