999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
verfasst hat. Mein Gott, Ferruccio!«
Sie wurden von einer Gruppe Soldaten überholt, die langsam durch die Menge ritten und die Menschen kritisch beobachteten. Eine Horde verwahrloster Kinder sprang um sie herum und machte einen Heidenlärm. Die Menschen traten schnell zur Seite, um die Gardisten vorbeizulassen, denn alle hatten sie etwas zu verbergen – entweder vor den Augen Gottes oder vor denen der Menschen. Und sie hatten Angst, dass ihre Sünden unter den wachsamen Blicken der Papstgardisten zu Tage treten und sie verraten könnten.
»Giovanni, ich hoffe nicht, dass du …«
»Ich muss, Ferruccio. Ich bitte dich, hilf mir! Vielleicht kannst du mir mein Leben erneut retten. Wie viel Geld haben wir noch?«
»Der Kommandant der Kerkerwache hat uns zweihundert Goldmünzen gekostet. Er hatte dreihundert verlangt, und ich hatte zur Sicherheit die doppelte Summe dabei.«
»Das bedeutet, wir haben noch Geld und müssen uns kein neues holen. Wir könnten es schaffen. Wie viel kostet eine Äbtissin, Ferruccio?«
»Ah, Giovanni, das kann ich dir nicht sagen. Ich habe schon so viele Männer gekauft und auch die ein oder andere edle Dame – aber eine Nonne!« Ferruccio schüttelte den Kopf. »Aber ich denke, dass dich die Äbtissin für zweihundert Goldmünzen sicherlich mit einer jungfräulichen Novizin Unzucht treiben lassen würde.«
Giovanni haute ihm ordentlich auf die Schulter. »Das glaube ich auch«, grinste er begeistert.
»Du bist eigenartig, Giovanni. Wenn du über Philosophie sprichst, dann erscheint es, als würdest du tausend Jahre Wissen in dir tragen. Aber wenn es um Margherita geht, dann erscheinst du wie ein junger Student, der den Weiberröcken hinterhersteigt.«
»Ohne Leidenschaft hätte ich nicht das Prinzip der göttlichen Liebe entdeckt, Ferruccio. Die Leidenschaft ist der Wind, der die Segel der Vernunft erfüllt und vorantreibt. Ohne sie würde der Mensch orientierungslos und ohne Hoffnung in den Wellen des unendlichen Ozeans treiben.«
»Jetzt bist du wieder zum Philosophen geworden. Sag mir, was ich tun soll, mein Freund.«
»Der Stratege und Menschenkäufer bist du. Schmiede einen Plan, damit wir Margherita befreien können.«
»Zuerst Girolamo, nun Margherita. Wenn es nach dir ginge, würden die Kloster und Kerker Roms leer stehen«, sagte Ferruccio lächelnd.
Florenz
Donnerstag, 21. Oktober 1938
Die Regentropfen liefen in dünnen Rinnsalen an den Fensterscheiben hinunter und gaben nur einen verschwommenen Blick auf die dahinterliegenden Wiesen und Bäume frei. Das Donnern des nächtlichen Gewitters hatte ihn geweckt. Er war an das Fenster getreten, um die Blitze, die wie Schwerthiebe des Lichts auf die Erde heruntergingen, zu betrachten. Er stand schon seit Stunden so. Nun war es Zeit für Giovanni Volpe zu gehen. Die letzten Tage in der Klinik hatten seinen Geist und seine verwundete Seele geöffnet. Der vage Geruch von Desinfektionsmitteln, die entfernten Stimmen, die sich in den langen Fluren verloren, die kalten Kacheln und das Echo leerer Zimmer: Das alles erinnerte ihn an seine Zeit im Waisenhaus. Er hatte die zwei wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren: Giacomo de Mola und Elena. Qual und Wut kamen wieder in ihm hoch, aber mittlerweile waren diese Gefühle kalt und kristallin. Er ging in sein Badezimmer, schaute in den Spiegel und drehte den Wasserhahn auf: Mit diesen ungepflegten Haaren und dem langen Bart würde er unmöglich das letzte Kapitel seines Lebens aufschlagen können.
Vorsichtig klopfte Giovanni an die Tür des Klinikdirektors, Professor Ermete Terracini.
»Herr Volpe, schön, Sie zu sehen. Treten Sie ein.«
»Guten Tag, Herr Professor. Wie geht es Ihnen?«
»Mir geht es gut. Sie sehen auch viel besser aus; Sie haben eine gute Farbe! Das freut mich wirklich. Sie sind ein neuer Mensch, Herr Volpe.«
»Ja, in der Tat, das bin ich auch wirklich, und dafür wollte ich mich bei Ihnen bedanken.«
»Ach, das brauchen Sie nicht. Die moderne Medizin und das althergebrachte Wissen über das Ausruhen haben das vollbracht. Aber die beste Medizin steckt in uns selbst: Die alten Inder nannten sie Seelenhygiene oder spirituelle Heilung.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Herr Professor. Ich spüre ein ganz neues Gleichgewicht in mir.«
»Schön, ich freue mich wirklich, Sie so zu sehen. Eine oder zwei weitere Wochen hier würden Ihnen aber noch guttun. Danach können Sie wieder arbeiten.«
»Ja, Herr Professor, ich glaube auch, dass die Arbeit nur gut
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