999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
feuchten und stinkenden Tuffsteinmauern. Immer tiefer drangen sie in den Kapitolshügel vor.
»Wir haben den Rubikon überquert«, flüsterte Giovanni seinem Freund Ferruccio zu.
Heimlich verwünschte der Wärter seinen Kommandanten, der ihm befohlen hatte, die beiden geheimnisvollen Besucher in den Kerker zu führen. Er war angewiesen worden, ihnen denjenigen Gefangenen mitzugeben, den sie sich aussuchen würden. Eine Silbermünze, die gerade für einen Krug Bier oder eine Frau reichte, war in seine Jacke geglitten – was er aber in die Taschen des Kommandanten hatte wandern sehen, war pures Gold gewesen. Sie kamen in einen Raum, der aus kleinen, durch Gitter unterteilten Höhlen bestand. Der Gestank nach Exkrementen, Blut und Tod war unbeschreiblich. Sie hörten ein schwaches Wehklagen und wussten instinktiv, dass es nie erhört werden würde. Der Wärter grinste böse, als er die angeekelten Gesichter von Giovanni und Ferruccio bemerkte. Er öffnete die Tür und bedeutete ihnen mit einem Kopfnicken einzutreten. Da Ferruccio ihm nicht traute, packte er den Wächter am Arm und zog ihn mit hinein.
»Wenn du versuchst abzuhauen«, flüsterte er ihm ins Ohr, »dann schneide ich dir die Kehle durch und werfe dich den Männern hier zum Fraß vor.«
Der Raum war nur durch zwei Fackeln erleuchtet, deren Qualm die Luft unerträglich und das Atmen fast unmöglich machte. Niemand schien ihre Anwesenheit zu bemerken. Giovanni begann, sich zwischen den Gefangenen umzusehen, um vielleicht das Antlitz seines Freundes zu entdecken. Nur ein einziger Mann schien sich für die beiden Besucher zu interessieren. Er war kräftig gebaut, und das Licht der Fackeln spiegelte sich auf seinem kahlen Schädel. Er saß auf einem Stuhl, während zwei Jünglinge ihm die Füße massierten. Ferruccio nahm den Wächter beiseite.
»Wer ist das?«
»Er nennt sich ›der König‹. Er ist seit Jahren hier und von allen vergessen worden.«
»Bring’ ihn her.«
»Seid Ihr des Wahnsinns? Der schlitzt mich auf, wenn ich mich ihm nur nähere.«
Ferruccio ging entschlossen auf den, der sich ›der König‹ nannte, zu und stieg dabei über mehrere Körper.
»Man sagt mir, du seiest der König. Tust du mir einen Gefallen?«, sprach er ihn an.
»Kommt ganz darauf an. Was bekomme ich dafür?«
Seine Stimme war tonlos.
»Ich habe Gold.«
»Das ist hier wertlos.«
»Sag’ mir also, was du willst.«
Der König bedeutete Ferruccio näher zu kommen und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Dieser nickte. »Gewiss. Und nun bringe mir den Mann, den wir suchen. Er ist Poet und heißt Girolamo.«
»Ah«, rief der König aus, »der Sodomit.«
Die beiden Jünglinge zu seinen Füßen lachten. Der König packte einen von ihnen am Kiefer.
»Geh und hol’ ihn«, befahl er dem Jungen.
Einige Augenblicke später kam der Junge mit einem ausgemergelten zitternden Etwas am Arm zurück, das mit leerem Blick vor sich hinstarrte. Der König gab Giovanni einen Wink. Als dieser sich dem gebrochenen Wesen näherte, blinzelte der geschundene Mann heftig und begann zu weinen. Giovanni legte ihm seinen Mantel um die Schultern.
»Es ist vorbei, Girolamo, es ist alles vorbei«, sagte er leise und begütigend.
»Und nun löst Euren Teil der Abmachung ein«, forderte der König.
Ferruccio näherte sich dem Wärter und hielt ihm einen Dolch an die Kehle. Die beiden Jungen sprangen auf und stopften ihm den Mund zu.
Dieser versuchte verzweifelt, um sich zu treten und sich zu wehren, während er vor den König gezerrt wurde.
Ferruccio und Giovanni, die Girolamo stützten, gingen zum Ausgang zurück und hörten den König schon nicht mehr, als er über den Kopf des Wärters streichelte und sanft zu ihm sagte:
»Seit langer Zeit warte ich auf diesen Moment. Heute Nacht wirst Du meine Königin sein.«
Rom
Mittwoch, 11. April 1487
Girolamo Benivieni war noch nicht wieder ganz hergestellt. Er hatte jedoch bereits zugenommen und wieder eine rosige Gesichtsfarbe. Aber seine Launen waren miteinander im Konflikt. Seit seiner Inhaftierung dominierte die schwarze Galle das Wesen des Poeten und war verantwortlich für seine apathische Melancholie. In gewissen Momenten allerdings, wenn die gelbe Galle dominierte, haderte er mit Gott und der Welt und beschuldigte im Zorn sogar seinen Retter Giovanni. Er sei die Ursache von all seinem Leid, warf Benivieni ihm dann vor. Diese Extreme beruhigten sich, sobald Girolamo seinen Gefühlen Luft gemacht hatte; einen Moment später versank
Weitere Kostenlose Bücher