999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
er bereits wieder in seiner Traurigkeit. Dann bat er unter Tränen um Verzeihung für seine bösen Worte. Um die endgültige Heilung zu beschleunigen, würde man Laxantien, Aderlasse und Klistiere anwenden müssen.
»Wenn ich könnte, würde ich Elia del Medigo herbeirufen. Er könnte Girolamo sofort helfen«, sagte Giovanni nachdenklich zu Ferruccio.
»Wenn del Medigo Florenz verlässt, dauert es genau einen Tag, bis Borgia seine Schriften verbrennt, und zwei, bis er ihn auf dem Scheiterhaufen brennen lässt.«
»Ich weiß, Ferruccio – und darum rufe ich ihn nicht. Aber ich mache mir Sorgen um Girolamos Geisteszustand. Er hat sich so stark verändert, dass ich ihn kaum wiedererkenne. Seine Krisen verfolgen mich. Manchmal denke ich, er hat Recht, wenn er mich beschuldigt, der Grund für sein Unglück zu sein.«
»Mir macht es mehr Sorgen, wenn ich daran denke, dass wir ihn nach Florenz mitnehmen müssen. Sobald sie seine Flucht entdecken, werden sie nach ihm und seinen Komplizen suchen. Und dabei unweigerlich an dich denken. Warum suchst du nicht das Weite, Giovanni?«
»Wegen Margherita.«
»Margherita, Margherita, Margherita. Immer nur sie. In diesen Dingen kann ich dir keinen Rat geben. Warum bist du dir überhaupt so sicher, dass sie immer noch in Rom weilt? Könnte sie nicht in Arezzo sein? Das ist immerhin ihre Heimat.«
Giovanni lächelte und holte einen Brief hervor, den er seinem Freund vorlas.
»›Addio. Gebt mir und meinem Gemahl meine Ehre zurück. Und so wahr mir Gott helfe – ich habe meinem Gatten Treue und Liebe versprochen. Versprecht und versprecht nochmals, dass Ihr mich nicht mehr suchen werdet‹.«
»Und du suchst sie immer noch? Das ist Wahnsinn. Sie bittet dich, von ihr abzulassen – verstehst du das denn nicht?«
»Ganz im Gegenteil. Sie lässt mich wissen, dass sie Ende Mai in Rom ist. Sie erwartet mich.«
Ferruccio und Leonora sahen sich verständnislos an.
»Einige Buchstaben sind hervorgehoben. Ende Mai in Rom. Auch aus diesem Grund bin ich hier. Wir haben unsere eigene Geheimsprache. Am ersten Sonntag in der ersten Kirche hinter der Petersbasilika.«
»Am Sonntag ist Ostern.«
»Umso besser. Die Kirchen werden übervoll sein, und es ist Tradition, in mehrere zu gehen. So wie ich jetzt aussehe, wird mich ohnehin niemand erkennen – nicht einmal sie. Ferruccio, ich schwöre dir – wenn ich Margherita überzeugen kann, mir zu folgen, dann mache ich alles, was du willst. Ich würde es sogar aufgeben, meine Thesen vor dem Papst zu verteidigen.«
»Das könntest du bereits jetzt tun. Hat es Sinn, die Neunhundert Thesen zu verteidigen, wenn es nicht die sind, die für dich am bedeutsamsten sind? Dich interessieren doch viel mehr die anderen Thesen – jene, welche die Wahrheit über die Mutter enthalten.«
Zuerst nickte der Graf, dann schüttelte er den Kopf. Ferruccio wurde unruhig. Er verstand nicht.
»Ich versuche es dir zu erklären, Ferruccio – habe Geduld mit mir, ich bitte dich. Sag mir zunächst, ob du als Mann der Waffen jemals den Namen eines Chinesen, Sun Tzu , gehört hast?«
»Nein, ich habe noch nie von ihm gehört.«
Ferruccio biss in einen Apfel und hörte seinem Freund geduldig zu. Er wusste, wie sehr es Giovanni genoss, ihn an seinem Wissen teilhaben zu lassen, und außerdem konnte er immer noch etwas dazulernen.
»Dieser Sun Tzu war ein chinesischer General, der vor zweitausend Jahren gelebt und ein überaus wichtiges Traktat über die Kunst des Kriegführens verfasst hat, das den Titel Bing Fa trägt. Er vertrat die Meinung, dass Dispute und Wettkämpfe nicht mit Krieg beantwortet werden können.«
»Du bist sogar der chinesischen Sprache mächtig? Ach, eigentlich sollte ich mich über nichts mehr wundern bei dir.«
»Wissen kann auch ein Fluch sein, Ferruccio, und manchmal würde ich nur allzu gerne darauf verzichten.«
»Ja, du hast Recht, entschuldige die Unterbrechung. Erzähle weiter. Die Worte des Generals erscheinen mir allerdings seltsam.«
»Du hast Recht. Aber es scheint, dass Sun Tzu ein sehr weiser Mann war. Er vertrat außerdem die These, dass die Strategie wichtiger sei als die Schlacht selbst, um den Krieg zu gewinnen. Und dass diese Prinzipien für das alltägliche Leben Anwendung finden sollten.«
»Jetzt wird es interessant.«
»Wenn ich nun zulassen würde, dass meine neunhundert Thesen ohne meine Gegenwehr verurteilt würden, sähe das wie ein Schuldeingeständnis aus. Darüber hinaus würde ich meine Glaubwürdigkeit
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