999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
für mich sein kann.«
»Ja, zweifellos.«
»Darum frage ich mich, ob es möglich wäre, dass ich im Antiquariat vorbeigehe, um einige Bände zu holen. Wissen Sie, ich beginne langsam unter meiner Untätigkeit zu leiden.«
Terracini sah ihn über seine Brillenränder hinweg an. Er kannte die ganze Geschichte seines Patienten – fast jedenfalls. Als de Mola ihn hierhergebracht hatte, befand er sich in einem bemitleidenswerten Zustand. De Mola hatte ihn gebeten, Giovanni wenigstens bis zu seiner Rückkehr dazubehalten. Solange er unter Beruhigungsmitteln gestanden hatte, war das auch kein Problem gewesen – nun aber würde er ihn nicht mehr gegen seinen Willen hierbehalten können. Nichtsdestotrotz schien es dem Patienten wirklich viel besser zu gehen.
»Wissen Sie, Herr Volpe, Doktor de Mola ist noch nicht zurückgekehrt, und wie Sie sich sicher vorstellen können, hatte er mich eindringlich gebeten, Sie wieder vollkommen herzustellen. Sie wissen sicherlich, wie wichtig dem Doktor Ihre Gesundheit ist.«
»Darf ich rauchen, Herr Professor?«
»Eigentlich nicht, aber wenn Sie mich so fragen, dürfen Sie mir auch eine anbieten.«
Volpe lächelte, und während sich die Flamme des Feuerzeugs in den Brillengläsern des Professors spiegelte, bereitete er seine Antwort vor.
»Ich habe Giacomo sehr gerne«, sagte Giovanni, »und ich weiß, wie wichtig ich für ihn bin. Dafür bin ich ihm auch unendlich dankbar. Und genau deshalb habe ich mir eine Überraschung für ihn ausgedacht. Bevor es mir so schlecht ging, war ich dabei, Bücher zu katalogisieren … Professor, kann ich offen mit Ihnen sprechen?«
»Natürlich. Mit Ihnen verbindet mich nicht nur der Eid von Hippokrates, sondern auch unser gemeinsamer Freund.«
»Sehen Sie, Professor, im Laden bewahren wir einige überaus wertvolle jüdische Inkunabeln aus dem 15. Jahrhundert auf. Und in dieser Zeit ist mir gar nicht wohl, sie dort zu wissen. Sie werden dem Buchdrucker Joshua Salomon Soncino zugeordnet. Unter anderem befindet sich auch die Favola Antica , einer der ältesten Texte der Kabbala, unter ihnen. Hier wären sie in Sicherheit, und wenn Sie es möchten, kann ich sie Ihnen gerne zeigen. Sie sind von unvergleichlicher Schönheit und ein Meisterwerk in Miniatur.«
Terracini riss die Augen auf: Er hatte zwar nicht viel von dem verstanden, was ihm Volpe erklärt hatte, aber wie Volpe über die geheimnisvollen Bücher gesprochen hatte, hatte ihn verzaubert. Dieser Mann war definitiv gesund.
»Es wird mir eine Ehre sein, diese Inkunabeln zu betrachten«, sagte Terracini aufrichtig. »Wenn Sie es wünschen, können Sie sie in meinem Tresor aufbewahren. Ich bin auf die Geschichte dieser Bücher gespannt. Nicht allein deshalb, weil ich selbst Jude bin, wie Sie vielleicht wissen.«
»Seien Sie stolz auf Ihren Nachnamen!«
Terracini unterschrieb den Entlassungsschein ohne zu zögern. Ja, bis jetzt war er auf seinen Nachnamen stolz gewesen, aber in der letzten Zeit war ihm aufgefallen, dass er unbewusst angefangen hatte, seinen Nachnamen unleserlich zu unterschreiben. Nur seinen Vornamen, Ermete, den ihm seine Eltern zu Ehren des großen italienischen Schauspielers Zacconi gegeben hatten, schrieb er deutlich.
Der Bus fuhr langsam nach Florenz hinunter. Eben hatte es aufgehört zu regnen, und die Straßen waren voller Piniennadeln und rutschig. Weshalb ihm gerade Antica Favola als Buchtitel in den Sinn gekommen war, konnte Giovanni im Nachhinein nicht mehr sagen. Jedenfalls war es eine perfekte Eingebung gewesen, denn er hatte die Neugierde des Professors geweckt. Giovanni stieg am Bahnhof aus, holte die Schlüssel von zu Hause und ging dann zu Fuß ins Antiquariat. Er nahm die Post, die sich vor der Ladentür angesammelt hatte, und warf sie ungelesen auf den Tisch.
Man konnte riechen, dass der Laden seit einiger Zeit geschlossen war, und bald würde sich ein weiterer, hartnäckigerer Geruch verbreiten. Auch für Bücher gibt es eine Hölle. Und nicht nur die des Feuers, das sie in kürzester Zeit zu Asche macht. Nein, die Bücherhölle ist wesentlich subtiler, aber genauso tödlich: Der Schimmel. Der weiße, der braune und der rote würden sich nach und nach wie ein Gift von innen durch den im Papier enthaltenen Leim fressen. Giovanni seufzte. Auch er war vergiftet worden, aber mit einem viel süßeren Gift: Elena. Er öffnete den Tresor und sah die Inkunabeln der Favola Antinca . Beinahe hätte er sie an sich genommen, aber dann riss er die mit Klebeband
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