999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
1938
Nun, Doktor de Martini, wie fühlen wir uns heute?«
Giacomo de Mola lächelte den Doktor an. Eine Krankenschwester trat an sein Bett und schüttelte ihm fürsorglich die Kissen auf. Er sah auf die Uhr; es war sieben Uhr dreißig. Seit zwei Tagen lag er wegen seiner Kopfverletzung im städtischen Krankenhaus von Lugano. Der Corriere del Ticino hatte über einen blutigen Banküberfall in der Schweizer Bankgesellschaft berichtet.
»Ich habe Ihnen eine Zeitung mitgebracht. Ich hoffe, Sie freuen sich darüber«, fuhr der Arzt fort, »auf Seite fünf ist ein Artikel, der Sie interessieren könnte.«
»Danke … Doktor?«
»Riva, Leopoldo Riva«, antwortete der Arzt, nahm die Krankenakte de Molas, die am Ende des Bettes hing, und begann, in ihr zu blättern.
Giovanni seufzte. Das war das Problem mit den Krankenhäusern. Dieser Doktor Riva war der dritte Arzt, der ihn in zwei Tagen untersuchte. Giacomo legte die Zeitung auf seinen Nachttisch und schaute aus dem Fenster. Er lag im letzten Stock bei den Selbstzahlern und konnte auf den Berg Brè schauen, auf den eine Seilbahn hinaufging. Sobald es ihm besser ging, würde er mit der Seilbahn in das auf dem Gipfel liegende Örtchen hochfahren. Es war ein guter Ort, um auf weitere Anweisungen von Omega zu warten.
»Schauen Sie sich bitte den Artikel an, Dr. Martini, jetzt, bitte.«
In seinem schmerzenden Kopf klingelten sämtliche Alarmglocken. Giacomo starrte den Arzt an. Wer war er? Ein Handlager Zugels, der die Arbeit zu Ende bringen sollte oder …? Langsam nahm er die Zeitung in die Hand und schlug Seite fünf auf. Dort klebte ein Telegramm.
Viele Grüße an Gabriele.
Nächsten Sonntag treffen wir uns mit dem Grafen in der Kirche.
Erhole dich.
Giacomo war erleichtert und schaute dem Arzt mit offenem Blick in die Augen.
»Geben Sie mir bitte die Zeitung zurück. Ich habe sie noch nicht gelesen«, sagte dieser.
»Die Lektüre war sehr interessant«, antwortete de Mola. »Ich hoffe, ich werde Sie an meinem Bett wiedersehen, Doktor.«
»Ab jetzt werde ich mich um Sie kümmern.« Der dichte graue Schnurrbart bedeckte zwar seine Lippen, doch in seinen Augen war ein Lächeln zu erkennen. »Sie haben eine böse Verletzung.«
»Die bereitet mir die wenigsten Schmerzen. Es ist etwas anderes.«
»Die Welt dreht sich immer noch, Doktor … wie war Ihr Name?«
»De Martini, es ist besser so.«
»Richtig, de Martini. Ich sagte, die Welt dreht sich immer noch, und Sie erinnern sich bestimmt, dass im alten Rom einmal im Jahr die Rollen vertauscht wurden: Während der Saturnalien wurden die Sklaven zu Herren. Auch in unseren Zeiten kann sich von einem Moment auf den nächsten alles ändern und ein Jäger zum Gejagten werden. Wir sind schon auf seiner Spur.« Die Stimme des Arztes wurde ernst, »und wir werden alles tun, um das wiederzubekommen, was Ihnen gestohlen wurde.«
De Mola nickte unsicher und spürte die Nähte an seiner Wunde. Instinktiv fasste er sich an seinen Schädel. Langsam stand Giacomo auf und ging ans Fenster – er war schwächer, als er dachte. Er teilte die Meinung des Arztes nicht – mittlerweile waren zwei Tage vergangen, und Zugel hatte bestimmt schon seine Belohnung abgeholt. Wahrscheinlich zusammen mit dieser Frau, Elena. So schwierig wie es war, von Deutschland in die Schweiz zu gelangen, so einfach war der umgekehrte Weg. Wenigstens befand sich Giovanni nun in Sicherheit.
»Meinen Sie?«, fragte de Mola und drehte sich um. »Ich würde nur zu gerne glauben, was Sie mir sagen. Aber ich glaube nicht an die römischen Bräuche. Wissen Sie, wer gesagt hat, dass die Erde allen gehört, dass es keine Mauern oder Grenzen gibt, weder arm noch reich, weder groß noch klein, weder Könige noch andere Herren und dass alle gleich sind?«
»Ein Marxist, nehme ich an?«, antwortete der Arzt vorsichtig. Konnte sein Patient ein Kommunist sein?
»Nein, Doktor, das steht in den Sibyllinischen Büchern geschrieben. Es ist eine Prophezeiung. Zweitausend Jahre später hat sich jedoch nichts geändert. Und das ist es, was ich am meisten fürchte. Es ist nicht der Diebstahl an sich, um den ich mir Sorgen mache, sondern dass sich auch in den nächsten zweitausend Jahren nichts ändern wird.«
Rom
Freitag, 6. April 1487
Ein hagerer und schmutziger Mann mit langen verdreckten Haaren ging vor den beiden maskierten Männern her. Ihre prächtigen Gewänder passten weder in den Annona-Kerker, noch eigneten sie sich für einen Spaziergang entlang der
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