999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
Giovanni, seit vielen Jahren mein treu ergebener Sekretär.«
»Warum wollt Ihr eine unserer Konversen sehen?«, fragte die Äbtissin misstrauisch. »Eine Missive des Kardinals ist ein mächtiger Schlüssel, aber hier habe ich das Sagen!«
Giovanni senkte als Zeichen der Demut den Blick – und dachte an die Person, mit der er zuletzt über den giftigen Nieswurz gesprochen hatte …
Ferruccio näherte sich unterdessen der Äbtissin und sprach so leise, dass sie gezwungen war, ihr Ohr ganz nah an seinen Mund zu halten.
»Es handelt sich hier nicht um mich, Mutter, sondern um diesen unglücklichen Jüngling, mutterlos und mit unbekanntem Vater. Edelfrau Margherita hatte versprochen, ihm wichtige Dinge über seine Herkunft zu verraten. Denn es scheint, dass er der Sohn eines Onkels ihres Gemahls ist und eine weitläufige Verwandtschaft mit den de’ Medici aus Florenz aufweisen kann.«
»Ach, sogar die de’ Medici!«, rief die Äbtissin aus und sah dabei Giovanni an, der weiterhin den Kopf gesenkt hielt.
»Ich weiß, wie viel Ihr für die armen Seelen hier tut. Die Mutter Giovannis hätte eine von ihnen sein können. Und um Euch dafür zu danken, möchte ich dem Kloster fünfzig Golddukaten spenden, damit Ihr die verlorenen Töchter weiterhin in Eure Gebete einschließt.«
»Das ist eine großzügige Spende, die für uns recht ungewöhnlich ist. Margherita hat ihr Gelübde noch nicht abgelegt. Angesichts der verzweifelten Situation Eures Sekretärs und der Intervention des Kardinals glaube ich jedoch, dass wir an sie herantreten können. Natürlich nur in Anwesenheit einer Mitschwester. Und selbstverständlich nur, wenn sie den Anblick eines Mannes noch akzeptieren kann.«
»Natürlich und selbstverständlich, ehrenwerte Mutter.«
»Wartet hier.«
Ferruccio machte eine leichte Verbeugung. Das Verhalten der Äbtissin war ihm von Anfang an zuwider gewesen. Zuerst feindselig und plötzlich dem Vorschlag Ferruccios gar zu sehr zugeneigt. Sie war falsch. Giovanni ging nervös auf und ab.
»Denkt daran«, sagte Leonora und berührte ihn am Arm, »seid nicht ungestüm, wenn Ihr sie erblickt. Sie wird verzweifelt sein. Seid sanft. Das sage ich Euch als Frau.«
»Ich werde Euren Rat befolgen, obwohl es nicht einfach für mich sein wird«, versprach Giovanni.
»Ich kenne die Liebe, Giovanni, und ich weiß, dass es Euch danach dürstet und Ihr Euch daran zu laben wünscht. Aber Ihr müsst Respekt für Margheritas Zustand aufbringen.«
Sie mussten über zwei Stunden warten, bis die Äbtissin wieder erschien. Auf einmal ertönten im ganzen Säulengang das Kyrie Eleison und das Christe Eleison , von einem Chor gesungen.
»Das ist unsere altehrwürdige Tradition und unser Privileg«, sagte die Äbtissin. Dreimal am Tag sprechen wir einhundert Mal das Kyrie Eleison.«
Mit geschlossenen Augen und vor der Brust gekreuzten Armen wiederholte sie die Anrufung fünfmal. Dann bekreuzigte sie sich und hielt dabei drei Finger ihrer Hand zusammen.
»Margherita erwartet Euch, Giovanni. Nur ihn«, fügte sie hinzu und hielt Ferruccio und Leonora zurück. »Für Euch und Eure Gemahlin habe ich frischen Zitronensaft vorbereiten lassen. Ihr könnt hier warten; der Tag ist mild und lädt zu Gebet und Andacht ein. Wenn Ihr etwas wünscht, dann wendet Euch an Gregorio, der mich sogleich rufen wird.«
Der grobe Kerl mit seinen dicken Stirnwülsten war lautlos hinter ihnen aufgetaucht und grunzte zustimmend.
Giovanni folgte der Äbtissin bis zu einer kleinen Holztür, die in einen Gebetsraum führte. Er blickte sich suchend um, sah aber niemanden. Hinter ihm wurde die Tür geschlossen.
* * *
Aus einer kleinen Nische, neben einem Altar, auf dem eine Statue der Jungfrau Maria stand, sah Giovanni endlich Margherita eintreten. Sie trug ein hellblaues hochgeschlossenes Gewand, das ihr bis zu den Füßen reichte, und einen hellen Schleier, der ihre Haare bedeckte. Keinerlei Schmuck zierte ihren Körper, und ihre Hände, die unter den weiten Ärmeln herausschauten, waren mager und knochig. Giovanni fühlte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte, und er konnte kaum an sich halten, um ihr nicht entgegenzustürmen. Was ihn daran hinderte, war die feiste, kleine Ordensschwester, die Margherita begleitete. Über ihrer weißen Tunika trug sie ein schwarzes Überkleid, das ihren gesamten Körper bedeckte. Sie hatte eine dicke Kordel um ihre Hüften geschlungen, an der ein silbernes Kreuz baumelte. Margherita wartete auf ein Zeichen der
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