999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
immer noch Versailles retten wollen. Europa, so wie es in Versailles konstruiert wurde, nämlich auf einer Pyramide aus Ignoranz für die Geografie und Geschichte Europas, liegt im Sterben. In dieser Woche wird sich das Schicksal Europas entscheiden. Und in dieser Woche kann ein neues Europa auferstehen: ein Europa der Gerechtigkeit und der Vereinigung aller Völker. Kameraden! Wir sind für dieses Europa.«
Der rauschende Applaus schien nicht aufhören zu wollen, und Klaue nutzte die Pause, um sich noch mehr Wein zu holen. Als er zurückkam, dauerte der Applaus immer noch an. Endlich ebbte er ab, das Pausenzeichen des Radios ertönte und kündigte damit eine neue Sendung an.
»Nun hören Sie den großen Erfolg von Maestro Dino Olivieri, ›Tornerai‹; es singt Galliano Massini.«
Klaue drehte das Radio leiser, denn er ertrug es nicht, wenn Süßholz geraspelt wurde. Er kratzte sich am Kopf und ging in die Küche zurück, wo Pranke saß und malte. Dieses Tier von Mann war unfähig, einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen, aber wenn man ihm Stifte zum Malen gab, dann zeichnete er Bilder, die wie Fotografien aussahen, so schön waren sie.
»Was machst du da?«
Pranke lächelte stolz wie ein Schüler vor der Lehrerin.
»Das ist das Haus, das hier der Garten, und das ist das Auto. Und schau, hier hinter dem Fenster, das bist du, der rausschaut.«
»Zeig her.«
Ja, das war er wirklich: Die Figur, die hinter dem Fenster stand und Pranke beim Malen beobachtete. Wie hatte er es nur geschafft, mit nur zwei Bleistiftstrichen sein spitzes Gesicht mit der blonden Tolle so präzise wiederzugeben?
»Du bist wirklich gut.«
»Danke«, antwortete Pranke und malte weiter.
Klaue wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte reden und sich ablenken, aber mit Pranke war das ein wirklich schwieriges Unterfangen.
»Die Rede von Mussolini habe ich schon einmal gehört. Ich glaube, es ist schon eine Weile her.«
»Mussolini ist ein guter Mann, denn er hat mich auf die Schule geschickt«, sagte Pranke, ohne von seiner Zeichnung aufzusehen.
»Natürlich ist er gut, ich habe ihn ja gar nicht kritisieren wollen. Ich habe es nur so gesagt. Langsam wird es mir hier langweilig. Seit einer Woche haben wir nun schon diesen Kerl im Keller, und das gefällt mir ganz und gar nicht.«
»Es sind sechs Tage.«
»Ja, schon gut. Sechs Tage oder eine Woche, was macht das schon für einen Unterschied? Warum sagt uns Zugel nicht, was wir mit ihm machen sollen?«
»Vielleicht weiß er das selber nicht so genau.«
»Na, du bist mir ja eine große Hilfe. Wenn das so weitergeht, bringe ich ihn selber um die Ecke.«
»Wie du willst. Wenn du Hilfe brauchst, sag einfach Bescheid.«
»Klar musst du mir helfen, was denkst du denn? Dass ich es allein schaffe? Ruhe! Der Duce spricht wieder.«
Eilig kehrte Klaue ins Wohnzimmer zurück und versuchte, das Radio lauter zu drehen, aber es ging nicht. Dann versuchte er, den Sender besser einzustellen, aber das Problem schien am Radio zu liegen. Nach zwei kräftigen Schlägen auf das Radio ertönte endlich die Stimme des Faschistenführers – nur war er leider bereits am Ende seiner Rede angelangt: »Wir dürfen nicht nur eine Allianz der Verteidigung eingehen. Das ist nicht notwendig, denn niemand würde es wagen, uns anzugreifen. Wir aber wollen die Landkarte der Welt verändern.«
Noch mehr Applaus – diesmal schaltete er das Radio jedoch aus.
»Ich verstehe nicht. Zuerst spricht er über den Frieden und dann davon, dass er die Landkarten der Welt ändern will«, murmelte er ratlos.
»Ich war gut in Erdkunde.«
Klaue schaute seinen Kumpan an und schüttelte den Kopf. Pranke war stark wie ein Gaul – er dachte aber auch wie einer. Er begann, ihn zu provozieren.
»Los, Pranke, zeichne mal eine nackte Frau.«
Pranke wurde rot bis unter die nicht vorhandenen Haarspitzen.
»Nein, keine nackte Frau.«
»Na dann zeig mir doch wenigstens, wie du mit den Ohren wackeln kannst.«
Vor ein paar Monaten waren sie ins Kino gegangen und hatten Dick und Doof gesehen. Als sie das Kino verließen, hatte Pranke wie Doof mit den Ohren gewackelt. Pranke grinste und wackelte mit den Ohren.
»Bravo«, sagte Klaue. Da er sich aber immer noch langweilte, entschied er sich, nach dem Gefangenen zu sehen. Er nahm die Pistole und ging in den Keller. Volpe war gefesselt, obwohl er nicht einer von den Typen zu sein schien, die Schwierigkeiten machten – aber man konnte ja nie wissen. Wenn er in der OVRA Karriere
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