999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
heiraten – wenn sie mich will.«
»Ich werde nicht nach Florenz gehen.«
»Möchtest du nach Mirandola zurückkehren?«
»Nein, ich verfolge einen anderen Plan, um die Thesen zu verbreiten. Es gibt noch eine andere Stadt, die fruchtbar für sie ist: Paris. Rom ist nicht die einzige Stadt auf dieser Welt.«
Später in der Nacht wachte Giovanni schweißgebadet auf. Erneut hatte er im Traum das Antlitz Margheritas erblickt, und über ihre Lippen waren die süßesten Worte gekommen, die er je gehört hatte. Leider konnte er sich nach dem Aufwachen nicht mehr an sie erinnern. Dafür hörte er in seinem Kopf aber immer noch die wüsten Verwünschungen von Giuliano de’ Medici, während er selbst mit Flammen kämpfte. Beide waren im Kloster gemeinsam beerdigt worden. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Er ging ans Fenster und öffnete es. Es war Halbmond. Die dunkle Seite erinnerte Giovanni an das, was er verloren hatte, und die helle an das, was das Leben noch für ihn bereithalten würde.
* * *
Derselbe Mond warf sein bläuliches Licht durch die Fensterscheiben eines Schlafzimmers. Im Palazzo Borgia waren vor kurzem alle Kerzen gelöscht worden. Der Tiber floss träge unter den Fenstern dahin, und alles war still. Die Ruhe wurde nur von den flüsternden Schiffern unterbrochen, die ihre Schmuggelware transportierten. Giulia hatte sich erleichtert und war zurück ins Bett gestiegen, als sie in die offenen Augen des Kardinals blickte.
»Habe ich Euch geweckt? Was habt Ihr, mein Herr? Gedanken, die Euch den Schlaf rauben?«
Der nackte und behaarte Bauch des Kardinals hob sich unter einem Seufzer. Seine Augen wanderten zu den an die Decke gemalten Liebesszenen, jedoch ohne sie wirklich wahrzunehmen. Er drehte sich zu seiner Geliebten um, die ein weißes Leinennachthemd trug, das ihre Nacktheit durch die transparenten Blumenmuster nur noch verführerischer machte.
»Nein, alles geht seinen Gang. Die Prozesse gehen mit den Verurteilungen Hand in Hand. Fränzchen leckt sich immer noch seine Wunden, aber meine Macht als Vize-Kardinalstaatssekretär ist unantastbar.«
»Und wann werdet Ihr Kardinalstaatssekretär?«
»Meine Blume, das kann nur der Papst sein.«
»Das ist es also, was Ihr Euch mehr als meine Liebe wünscht.«
»Ach, Giulia, Giulia! Das verstehst du noch nicht, dafür bist du noch zu jung.«
Rodrigo stand auf, zog sich einen leichten Morgenmantel aus rotem Damast über und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Ich spüre in mir, wie die Jahre voranschreiten, und – ob du es glaubst oder nicht – ich bin so alt wie Innozenz. Verstehst du? Ich kann nicht mehr lange warten. An einem Tag sagt er, dass er krank und bereit zum Sterben sei, und am nächsten Tag gibt er sich der Völlerei hin, als wäre er dreißig Jahre jünger. Und ich befürchte, dass er früher oder später, wenn die französische Krankheit komplett von seinem Gehirn und seinen Gedärmen Besitz ergriffen hat, ein Geheimnis ausplaudert.«
»Was für ein Geheimnis, mein Herr?«
Giulia war müde. Sie räkelte sich genüsslich und hielt sich dabei an den Säulen des Bettes fest. Giulia in dieser Position zu betrachten und sich zu erregen, waren für den Kardinal ein und dasselbe.
»Ein enormes Geheimnis, das unbedingt gewahrt werden muss, Giulia, auch vor dir. Ein fanatischer Philosoph, Graf Mirandola, ist ihm sehr nahe gekommen. Bald aber wird das nicht mehr wichtig sein, denn sein Körper wird in den Katakomben des Petersdoms begraben werden.«
»Ist Graf Mirandola nicht dieser hochgewachsene Jüngling mit der langen goldenen Lockenpracht? Der wegen seiner Thesen verurteilt wurde?«
»Du weiß sehr viel. Und ich sehe, du kennst den Grafen. Wie ist er? Gefällt er dir vielleicht?«
»Ich bin Euer, mein Herr, mit Körper und Geist. Und wenn mein Körper mit Euch sündigt, erfreut sich daran sogar meine Seele.«
»Dann scheint mir der richtige Moment gekommen, dass unsere Seelen sich gemeinsam erfreuen.«
An diesem Abend gab er sich ganz der Lust hin, und Giulia ging mit ihren Gedanken auf Reisen. Zu dem jungen Grafen, den sie vor Monaten auf einem Fest im Palazzo della Rovere erblickt und der mit seinen blonden Locken und seiner freundlichen und zugleich ernsthaften Art einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen hatte. Schade, dass sein Fleisch bald den Würmern zum Opfer fallen würde.
Prato
Mittwoch, 27.Oktober 1938
Die Stimme Benito Mussolinis erklang aus dem Radio.
»Kameraden! Es ist sinnlos, dass die Diplomaten
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