999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
spürte, dass er gewohnt war, Befehle zu erteilen.
Ein Aufzug brachte sie in den dritten Stock. Während sie durch einen Flur gingen, hatte Zugel die Gelegenheit, den dritten Turm, der um einiges größer als die beiden anderen war, zu bewundern. Es war der Nordturm, in dessen Mitte ein Marmormosaik in Form eines Sonnenrads, dem Symbol der alten arischen Religion, eingelassen worden war. Heinz betrat vor ihm ein Zimmer, das wie ein ganz normales Büro aussah; es war wie das Arbeitszimmer eines Notars oder eines Universitätsprofessors eingerichtet.
»Ich nehme an, Sie haben etwas für uns.«
Zugel holte das Manuskript aus seiner Aktentasche und übergab es stolz dem Mann. Dieser legte es in seine Schreibtischschublade, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Zugel spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief.
»Danke, Herr Leutnant. Sehr gute Arbeit. Sie können hier in der Burg bleiben, um sich auszuruhen. Das Abendessen wird um Punkt acht serviert.«
Zugel biss die Zähne zusammen. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Der Mann sah ihn an und schürzte die Lippen wie eine Frau, wenn sie sich Lippenstift aufträgt.
»Kann ich noch etwas für Sie tun, Herr Leutnant?«
»Nein, aber ich meine, dass das Buch sofort einer Prüfung unterzogen werden sollte. Ich weiß, dass Herr Reichsführer Himmler sehr daran …«
»Sie haben Ihre Pflicht getan, Herr Leutnant«, Heinz fiel ihm ins Wort, und seine Stimme klang auf einmal gar nicht mehr freundlich. »Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, ich habe noch weitere Angelegenheiten, um die ich mich kümmern muss. Heil Hitler!«
»Heil Hitler«, antwortete Zugel und entfernte sich.
Das Zimmer, das ihm zugewiesen wurde, glich der Zelle eines Mönches: Nichts als ein Bett, ein eintüriger Schrank und ein angrenzendes Zimmerchen mit Toilette und Dusche. Das Fenster lag auf der Talseite. Sobald er sich sicher war, allein zu sein, suchte sich Zugel etwas, an dem er seine Wut auslassen konnte. Da das Zimmer jedoch nichts bot, musste er damit vorliebnehmen, sich seine Fingernägel in die Unterarme zu graben. Dann nahm er sich ein Kissen vor den Mund und schrie sich seine ganze Wut aus dem Leib.
Von Rom nach Livorno
Mittwoch, 8. August 1487
und die folgenden Tage
Sie waren mit einem alten Karren quer durch die Stadt gefahren. Die Kontrollen auf dem Tiber waren allerorts verschärft worden, was ihre Angst, entdeckt zu werden, immer größer machte, dass drei Personen samt Kutsche und Gepäck (das sie notdürftig unter Obstkisten und Getreidesäcken getarnt hatten) unbemerkt reisen konnten. Jemand aus dem Haus hatte ihre Abfahrt bestimmt beobachtet. Wenn Leute aus Rom abreisten, fanden das die Menschen ganz allgemein ungewöhnlich, denn eigentlich wuchs die Stadt, und außerdem galt Rom als attraktivste Stadt Italiens. Erste Bemühungen, den antiken Glanz wiederzubeleben, waren bereits sichtbar, obwohl im Kolosseum nach wie vor Füchse und Wölfe herumlungerten.
Die drei Reisenden passierten die Reihen der Straßenhändler, die den Seeleuten auf ihren Karren Obst brachten, fuhren dann zwischen Feldern, Gemüsegärten, Bauerhöfen und Ruinen auf der Via Portuense entlang, bis sie zu den Überresten des antiken Hafens gelangten. Ferruccio erkannte das Schiff sofort wieder: Die Santa Marta ankerte an einem der letzten Ankerplätze, die noch aus den Zeiten Trajans stammten. Der Kapitän war freundlich, drängte aber zum Aufbruch. Es waren viele Soldaten unterwegs, und in den Hafenspelunken tuschelte man, dass sich hier ein paar gefährliche Verbrecher herumtreiben würden, auf die ein Kopfgeld ausgesetzt war.
»Ich hoffe, es handelt sich dabei nicht um Euch«, meinte der Kapitän.
»Nein, so wichtig sind wir nicht. Unser Geld jedoch – das könnte für einen Räuber gewiss verlockend sein. Aber nur für den, der mich nicht kennt.«
Zärtlich tätschelte Ferruccio sein Schwert. Der Kapitän wurde ernst.
»Auch ich habe meine Ehre, und meine Männer kämpfen für mich unter dem Einsatz ihres Lebens bis in den Tod!«
Die Santa Marta wurde aus dem Hafen gerudert, und der leichte Schirokko geleitete sie schnell auf das offene Meer hinaus. Das Wasser war ruhig, aber im Westen kamen ein paar Wolken auf, die vielleicht einen Sturm bringen würden. Wenn der Wind nicht bald drehte, wären sie gezwungen, einen sicheren Hafen anzusteuern.
Giovanni lehnte auf Deck an der Reling und betrachtete die Sonne. Sie hatte den Horizont des Meeres fast erreicht und
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