999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
schien in ihm zu versinken. Von der Küste war nur noch schemenhaft ein Turm zu erkennen. Leonora trat zu ihm und hängte sich bei ihm ein. Lange sahen sie schweigend auf das Meer hinaus. Ferruccio ließ sie ganz bewusst allein – die beiden sollten ruhig ihren Gedanken freien Lauf lassen: über die Toten und die Lebenden und über ihre Ängste und Hoffnungen, die sie hinter sich gelassen hatten. Ferruccio brachte sie von der hungrigen Wölfin fort, denn er liebte sie beide. Als er sah, wie Leonora ihren Kopf an Giovannis Schulter lehnte, verspürte er kein bisschen Eifersucht, sondern nur warme Zuneigung.
* * *
Die Wachen leisteten nur zaghaft Widerstand. Sie wagten es nicht, ihn aufzuhalten, und so drang Kardinal Borgia nahezu ungehindert in das Schlafgemach von Innozenz ein, der noch schlief. Es war noch vor Sonnenaufgang, und die Morgenmessen waren noch nicht gehalten worden.
»Er ist geflohen!«, schrie der Kardinal.
Der Frau, die bei Innozenz im Bett lag, entfuhr ein Schrei, und nackt, wie sie war, sprang sie aus dem Bett, um eiligst das Weite zu suchen. Der Kardinal versuchte, ihr einen Tritt zu geben, während er auf das Bett von Innozenz zustürmte. Dieser riss erschrocken die Augen auf und versuchte, sich zu orientieren. Er war noch nicht wirklich wach und schien noch gar nicht gewahr zu sein, wen er da vor sich hatte. Instinktiv zog er sich schützend das Bettlaken bis zur Nasenspitze hoch. Rodrigo näherte sich ihm bis auf eine Handbreit.
»Rodrigo! Ihr seid es! Aber wer ist denn geflohen?«
»Der Graf! Dieser verfluchte Kerl ist an Bord eines Schiffes geflohen.«
Die Frau schrie immer noch und versuchte mehr schlecht als recht, sich mit dem Vorhang des Fensters zu bedecken. Der Kardinal ging auf sie zu und presste ihr das Kinn schmerzhaft zwischen dem Zeigefinger und Daumen seiner Hand zusammen.
»Nimm deine Sachen und verschwinde aus diesem Raum«, knurrte er bedrohlich. Er sprach langsam, damit sie gezwungen war, seinen Atem zu riechen. Als sie das Schlafgemach des Papstes verließ, konnte sie diesmal den Tritten des Kardinals nicht ausweichen. Währendessen hatte sich der Papst einen Morgenmantel aus grünem Brokat übergezogen.
»Von wem habt Ihr das erfahren? Ist es eine zuverlässige Quelle?«
»Meine Spione begehen nie Fehler, dafür ist ihnen ihr Leben zu lieb und teuer«, blaffte Borgia und fügte hinzu: »Sie befinden sich auf einem Schiff nach Livorno.«
»Wir haben keine Schiffe, Rodrigo, wir können ihre Verfolgung nicht aufnehmen.«
»Ich weiß. Das ist ein anderes Problem, um das wir uns noch kümmern müssen. Die Armut der Kirche ist eine Schmähung der Glorie Gottes. Das Geld ist da, Giovanni. Wir müssen es uns nur noch holen. Aber zuvor müssen wir unsere Rechnung mit Mirandola begleichen, sonst ist alles umsonst gewesen.«
»Aber wie können wir sie erreichen?«
»Mit Sicherheit nicht über das Meer. Über das Festland ist es jedoch sehr wohl möglich. Ich will ihn tot – ob durch die Hand Gottes oder einen Henker, interessiert mich nicht. Er ist das einzige Hindernis, das mich noch aufhalten kann!«
Innozenz schaute ihn beunruhigt an.
»Ihr nehmt das zu persönlich. Pico ist gegen die Kirche, nicht gegen Euch und mich.«
»Gegen die Kirche sein heißt gegen uns sein. Und darum ist es sehr wohl eine persönliche Angelegenheit. Ich glaube, nun ist der Moment gekommen, dass Euer Sohn seine Missetaten wiedergutmachen kann.«
»Fränzchen?«
»Ja, ich weiß, Ihr habt noch mehr Bastarde, aber ja, ich dachte just an ihn. Bietet ihm an, was er haben will. Von mir aus kann er auch Statthalter von Rom werden. Wenn er Giovanni fängt und tötet.«
* * *
Lehmbrocken, Schweiß, Staub und Schlamm; Schreie und das bebende Getrampel nervöser Hufe. Glänzende Rüstungen, poliertes Leder, Schwerter und Speere an den Satteln der Pferde – Bogen und Armbrust auf dem Rücken: Dies waren die 50 berittenen Krieger, die Fränzchen Cibo in weniger als einem Tag um sich versammelt hatte. Sie waren bereits im Morgengrauen und noch vor Sonnenaufgang aufgebrochen. Der Sohn des Papstes ritt allen voran und gab das Tempo vor; neben ihm ein bewaffneter Schildknappe, der das Banner mit dem Cibo-Wappen trug. Fränzchen war der Einzige, der einen Stechhelm mit Nackenschutz trug. Noch hatte er sein Visier nach oben geklappt, und wenn er an den Bauernhöfen und den Mühlen vorbeikam, dann wurde er mit Verbeugungen und Grußworten erst respektvoll gegrüßt und mit Verfluchungen und
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