999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
einem Panzerschrank. Suchend blickte er sich um. Und tatsächlich, da war er, ein alter Gerlich, nachlässig hinter einem Vorhang versteckt. Es würde nicht besonders schwer sein, ihn zu knacken – allerdings hatte Zugel feuchte Hände und vor allen Dingen keine Zeit. Sein laut pochender Herzschlag verhinderte, dass er das leise Geräusch der Kombination, das von einem Experten leicht wahrgenommen worden wäre, hören konnte. Er schaute auf die Uhr: Seitdem er den Raum betreten hatte, waren nicht mehr als zwei Minuten vergangen. Er versuchte sich zu beruhigen, trocknete sich seine Hände ab und hielt erneut das Ohr an den kalten Stahl des Tresors. Eine Zahl nach der anderen, wie das kaum hörbar knirschende Geräusch von Holzwürmern, rastete ein. Zugel drehte zaghaft am Griff, und da sprang die Tresortür auf. Darin lag die schwarze Aktentasche mit dem Buch. Er atmete auf, ging zum Schreibtisch zurück, legte Heinz seine Beretta in die Hand und – nachdem er sie gut in das Handtuch eingewickelt hatte – drückte ab. Der Frotteestoff dämpfte das Geräusch des Schusses hinreichend – niemand konnte etwas gehört haben. Dann öffnete er Heinz die Hosen und holte nicht ganz problemlos sein Glied heraus. Bei einer genaueren Untersuchung könnten den Leichenbeschauer vielleicht Zweifel überkommen, aber um jeden Skandal zu vermeiden, würde man den Todesfall letztendlich als Selbstmord deklarieren, so viel war sicher.
Niemand sah ihn, als Zugel auf sein Zimmer zurückging. Er drehte den Wasserhahn zu und zog sich wieder an. Sein Koffer war schon gepackt und wartete nur noch auf das Manuskript. Gemächlich und mit einer Zigarette in der Hand ging Zugel die Treppe hinunter. Der Saal im Erdgeschoss war voller Menschen, die auf das Abendessen warteten. Kurz angebunden befahl er dem wachhabenden Soldaten, seinen Wagen vorzufahren, dann trat er in den Burghof und wartete. Wenn noch etwas schiefgehen konnte, dann jetzt. Unruhig blickte Zugel sich um. Von weitem konnte er zwei Lichter erkennen, die sich schnell näherten. Ein Soldat der Schutzstaffel mit Feldwebel-Abzeichen stieg aus seinem Auto, das mit laufendem Motor auf ihn wartete. Während er davonfuhr, sah Zugel noch einmal in den Rückspiegel, um einen Blick auf die Burg und seine Träume, die er hinter sich gelassen hatte, zu erhaschen.
Florenz
Montag, 8. November 1938 und
die darauffolgenden Tage
Nachdem Zugel einen Tag und eine Nacht durchgefahren war, erreichte er endlich Florenz. Er hatte gehofft, nicht mehr hierher zurückkommen zu müssen, aber mittlerweile hatte sich die Situation verändert. Nun musste er sehr vorsichtig sein. Früher oder später würden sie sich auf der Wewelsburg fragen, warum er so überstürzt abgereist war – und das ausgerechnet an dem Abend, an dem Hermann Heinz tot aufgefunden worden war. Bei seinem Glück hatte Heinz bereits weitergegeben, dass er das Buch von Zugel erhalten hatte, so dass der Diebstahl umgehend bemerkt würde – und er als Täter überführt. Es war also nur noch eine Frage der Zeit, bis ihm die Gestapo und die SS zu Leibe rückten und sie ihre Häscher aussandten, um das Buch zurückzuholen. Die einzige Möglichkeit, ihnen zu entkommen, war Amerika – Volpes Traum. Aber dafür brauchte Zugel dringend Geld. Nun, de Mola würde es ihm geben.
Zugel versteckte sich in einem Hotel, wo normalerweise Künstler abstiegen, und bezahlte für eine Woche im Voraus. Dann rasierte er sich den Schädel und die Augenbrauen ab. Das war die einzige mögliche Tarnung. Mit der Straßenbahn fuhr er ins Zentrum und stieg in der Via Tornabuoni, die nur ein paar Schritte von de Molas Antiquariat lag, aus. Zugel stellte sich schon dessen Gesicht vor, wenn er ihn sah. Vielleicht würde de Mola ihn im Affekt sogar angreifen, aber dafür hatte er vorgesorgt: Er hatte seine Luger dabei. Sie war zwar nicht so handlich wie die Beretta, aber aufgrund ihrer Größe bestimmt überzeugender. Er würde de Mola überzeugen müssen, dass es sich bei der Affäre mit dem Buch lediglich um ein Geschäft handelte und dass persönliche Dinge hier wirklich nichts zur Sachen taten. Ganz im Gegenteil: De Mola würde sich eigentlich bei ihm bedanken müssen, dass er ihn in der Schweiz nicht getötet hatte. Es war eine glückliche Eingebung gewesen, de Mola nicht zu erschießen, denn wem hätte er heute das Buch verkaufen sollen? Aber was, wenn er auf Volpe träfe? Zugel ging entschlossen weiter. Das würde nichts ändern.
Das Antiquariat war
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