999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
geglaubt hatte, Pferdegeräusche zu hören. Das vermeintliche Hufgetrappel entpuppte sich jedoch als besonders lauter Schnarcher eines Frauenzimmers, fett wie eine Sau. Unerklärlicherweise lag das hässliche Weib neben ihm im Bett und rührte sich nicht, als Fränzchen leise aufstand. Er stieg die Treppen hinunter. Im Gastraum war der Gestank nach Erbrochenem und Exkrementen noch schlimmer als in seiner Kammer. Wutentbrannt griff sich Fränzchen den nächstbesten seiner Mannen, gab ihm ein paar Ohrfeigen und befahl, sofort aufzubrechen.
»Bei Nacht?«, fragte ihn dieser mit großen Augen.
Fränzchen horchte auf. War er tatsächlich einen ganzen Tag lang bewusstlos gewesen? Seine Wut wuchs noch mehr, und tobend zwang er alle, trotzdem aufzubrechen. Sie würden schon irgendwo auf dem Weg nach Paris schlafen können, aber jetzt nicht. Er fluchte. Nun hatte der Graf einen ganzen Tag Vorsprung.
Auf der Wewelsburg
Samstag, 6. November 1938
Er war nun schon den dritten Tag hier in der Festung, aber niemand hatte es für notwendig gehalten, ihm irgendetwas mitzuteilen. Die Vorgesetzten ignorierten ihn, und sie taten es mit Absicht. Zugel kam sich wie ein Gespenst vor, das ziellos zwischen den anderen Geistern umherwandelt. Das einzige Zeichen, dass seine Anwesenheit überhaupt wahrgenommen wurde, waren die hastigen militärischen Grüße derer, die in der Militärhierarchie unter ihm standen. Zugels Moral war am Ende; aus Langeweile und Ärger waren Wut und Paranoia geworden. Er hatte sich zwar vorgesehen, nicht den Fehler zu begehen und sich dies anmerken zu lassen, doch nun war das Maß voll! Dass er vorsichtig sein musste, verstand sich allerdings von selbst, denn ihm war sehr wohl bewusst, dass die Waffen-SS nichts dem Zufall überlassen würde. Er war jedoch gerüstet – denn vor knapp einem Jahr hatte er in der Tirpitz-Uferstraße 76 in Berlin an seinem letzten Übungslager der Abwehrstaffel teilgenommen. Nun musste er nur noch herausbekommen, wie der Tagesablauf hier funktionierte, und die erlernten psychologischen Abwehrtechniken im Feindesland anwenden – denn die Burg war für ihn nunmehr zum feindlichen Territorium geworden. Die erste Regel, um zu überleben und den Plan zu Ende zu bringen, lautete, die Burg auszuspionieren. Ja, das hatte oberste Priorität!
Den lieben langen Tag wechselte Zugel je nach Bedarf sein Verhalten und seine Strategien. Mal war er locker, dann tat er so, als müsste er Unterlagen von A nach B bringen, dann blieb er in den Fluren zum Rauchen stehen und beobachtete dabei die Örtlichkeiten und die Gewohnheiten der Bewohner.
Zwei einfache, mit Mauser-Maschinengewehren bewaffnete Soldaten, die sich vollkommen unbeeindruckt von seinem Rang zeigten, hielten ihn mit gekreuzten Lanzen vor dem Zugangstor des Nordturms auf. Ohne mit der Wimper zu zucken, doch mit einem lautlosen Fluch auf den Lippen, wich Zugel zurück. Er wusste, dass er keine weitere Gelegenheit mehr haben würde herauszubekommen, ob sich in dem Turm wirklich der Sitzungssaal für die zwölf Ritter des schwarzen Ordens befand, der dem direkten Befehl Himmlers unterstand. Dass die Wewelsburg, ganz im Gegensatz zu allen anderen Burgen, von Süd nach Nord ausgerichtet war, hatte er bereits verifizieren können. Und dass der Nordturm die Pfeilspitze war, die den Weg nach Thule – dem Eden der arischen Ur-Rasse – wies, traf ebenfalls zu. Dies war der Ort, der ihm zustand! Zugel seufzte sehnsüchtig. Wenn er nur mit Reichsführer Himmler sprechen könnte! Er hätte einer der Zwölf werden können. Aber dies war mittlerweile undenkbar geworden. Das Wahrscheinlichste war, dass dieser Heinz mit diesem von Mackensen unter einer Decke steckte und die beiden ganz allein die Lorbeeren für die Beschaffung des Buches einstreichen wollten. Weil Himmler sich zurzeit gar nicht auf der Burg befand, stellte Zugel eine Gefahr für Heinz und Mackensen dar, denn früher oder später würden seine Verdienste zu Tage treten; lange würde sich ihre Intrige nicht aufrechterhalten lassen. Außer … nein, aber das wäre wirklich undenkbar, es gab sicher keine fünfte, von Heinz geleitete Kraft, die es darauf anlegte, das Buch an sich zu bringen! In beiden Fällen konnte er nur zu einer einzigen Entscheidung gelangen, und die hatte Zugel bereits für sich getroffen.
Von einem Fenster, das in den Burghof ging, sah er Hermann Heinz: Mittlerweile kannte er dessen manische Angewohnheiten. Der Plan war fertig und auch zwei mögliche
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