Abaddons Tor: Roman (German Edition)
fest. Der Stiefel bremste ihren energischen Marsch schlagartig ab. Sie verlor mehrere Sekunden, während sie sich überlegte, wie sie das Problem lösen konnte. Dann entdeckte sie die Steuerung und schob den Regler zurück, bis die Werte für sie passend waren. Nach diesem Erlebnis verzichtete sie auf allzu große Hast und bemühte sich, vor allem sicher und mit gleichmäßigem Tempo weiterzugehen. Langsam, aber stetig kam sie voran. Das Wettrennen war nicht mehr zu gewinnen, sie verlor sogar das Mädchen aus den Augen, sagte sich aber, dass dies keine Rolle spielte. Sie hatte eine recht gute Vorstellung, wohin Clarissa Mao wollte. Oder Melba Koh. Wer auch immer diese Frau war.
Sie hatte Bilder der Rosinante in den Newsfeeds gesehen. Wahrscheinlich war es das berühmteste Raumschiff aller Zeiten. James Holdens entscheidende Rolle bei den Vorfällen auf Eros und Ganymed, dazu zahlreiche Kämpfe und die Maßnahmen gegen Piraterie hatten dafür gesorgt, dass er und seine kleine Korvette über Jahre hinweg immer wieder in den Medien erwähnt worden waren. Solange nicht gerade zwei marsianische Korvetten nebeneinander parkten, war Anna sicher, das richtige Raumschiff zu erkennen.
Fünfzehn lange Minuten später erblickte sie es tatsächlich.
Die Rosinante war wie ein stumpfer schwarzer Keil oder wie ein dicker, auf die Seite gelegter Meißel geformt. Hier und dort hoben sich Wölbungen von der glatten schwarzen Außenfläche ab. Anna verstand nicht genug von Raumschiffen, um sie einordnen zu können. Es war ein Kriegsschiff, also handelte es sich wohl um Sensoren oder Waffen, ganz gewiss aber nicht um Türen. Das Heck des Schiffs wies in ihre Richtung, und die einzige sichtbare Öffnung befand sich im Zentrum des mächtigen Antriebskegels. Sie lief zum Rand des Schiffs, auf dem sie sich gerade befand, und dann von einer Seite zur anderen, um die Rosinante in Augenschein zu nehmen, ehe sie den Sprung wagte. Sie musste lachen, weil sie ausgerechnet bei diesem letzten Sprung so genau hinschaute. Die Übelkeit klang ein wenig ab.
Ein Stück vor dem Antriebskegel klebte eine Plastikblase am Schiff. Sie war hell wie Verpackungsfolie. Gleich darauf hatte sie das Loch in der Frachtluke des Schiffs hinter sich gelassen und befand sich im Inneren. Erst als sie zwischen den Kisten stand, die ähnlich wie ihre Füße mit Magnethalterungen verankert waren, fiel ihr ein, dass sie nicht über diesen Punkt hinaus geplant hatte. Besaß dieser Raum eine Verbindung zum Rest des Schiffs? Die äußere Frachtluke hatte keine Luftschleuse, daher war dieser Raum gewöhnlich wohl dem Vakuum ausgesetzt. Sie hatte keine Ahnung, wo sich die Besatzung aufhielt, und noch schlimmer war, dass sie nicht wusste, ob das Mädchen, das sie verfolgte, noch hier war und sich womöglich hinter einer der Kisten versteckte.
Vorsichtig zog Anna sich von Kiste zu Kiste weiter, bis sie das andere Ende der langen und schmalen Frachthalle erreicht hatte. Plastikstücke und gefriergetrocknete Lebensmittel flogen wie eine Wolke seltsam geformter Insekten um sie herum. Anscheinend waren bei einem Raumkampf oder beim abrupten Tempowechsel einige Kisten zerstört worden. Sie griff in den kleinen Beutel, der an ihrem EVA-Rucksack hing, und zog den Taser hervor. Unter Mikrogravitation oder im Vakuum hatte sie ihn noch nie abgefeuert. Sie hoffte, dass beides die Wirkung nicht beeinträchtigte. Auch das war ein Risiko, das kein Gürtler jemals eingegangen wäre.
Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie am anderen Ende des Raumes eine Luftschleuse, die sich mit einem Tastendruck öffnen ließ. Es dauerte mehrere Minuten, bis der Druckausgleich hergestellt war. Anna nutzte die Zeit, um die schwere EVA-Ausrüstung abzulegen, und spielte unterdessen mit dem Taser, bis sie begriffen hatte, wie die Waffe entsichert wurde. Das Militärmodell war leicht zu bedienen, aber nicht so eindeutig beschriftet wie die Zivilmodelle, an die sie gewöhnt war. Endlich blinkte die Anzeige grün, und die Innentür öffnete sich.
Auf dem Deck, bei dem es sich vermutlich um eine Werkstatt mit Werkzeugschränken und Arbeitsplatten handelte, war niemand zu sehen. In eine Wand war eine Leiter eingelassen, oben und unten führten Luken zu den vorderen und weiter hinter liegenden Decks. Anna überlegte sich, dass sie wahrscheinlich weiter vorne auf Crewmitglieder stieß. In diesem Moment hörte sie einen lauten Knall, und das Licht erlosch.
Kurz danach flammten gelbe LEDs in den Wänden auf, und eine
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