Abaddons Tor: Roman (German Edition)
Travin.«
Der Dicke riss die schweren Augenlider auf. Im Zwielicht rief jemand etwas Obszönes, um sie zu verunsichern. Das gelang ihm sogar, doch sie ließ sich nichts anmerken.
»Wenn du zu Travin willst, der ist hinten, Süße«, sagte der Dicke nickend. Die rote Tür hinten im Raum. Vorher der Spießrutenlauf zwischen anzüglich grinsenden oder drohenden Gesichtern.
Alle ihre Instinkte waren fehl am Platze, denn sie stammten aus der Zeit zuvor, als sie noch Clarissa gewesen war. Seit sie laufen konnte, hatte sie Selbstverteidigung trainiert, doch die Ausbildung hatte sich auf Gegenwehr im Falle von Entführungen konzentriert: Wie man die Aufmerksamkeit der Behörden weckte, wie man gefährliche Situationen mit den Entführern entschärfte. Natürlich hatte sie noch mehr gelernt, die Ausbildung hatte auch ein körperliches Training eingeschlossen, doch das Ziel war immer gewesen, möglichst schnell zu fliehen, wegzulaufen und Hilfe zu finden.
Hier war niemand, der ihr helfen konnte, und die Ausbildung nützte ihr nichts. Andererseits war das Training alles, was sie hatte, also setzte sie es ein. Melba – nicht Clarissa, sondern Melba – nickte dem Dicken zu und ging durch den überfüllten düsteren Raum. Die volle Erdschwerkraft zog sie nieder wie eine Krankheit. An einem Spieltisch wurde eine Zeichentrickfrau von drei kleinen grauen Außerirdischen, über denen eine fliegende Untertasse schwebte, sexuell attackiert. Jemand hatte einen kleinen Jackpot gewonnen. Melba wandte den Blick ab. Hinter ihr lachte ein unsichtbarer Mann. Sie bekam eine Gänsehaut im Nacken.
Das physische Training hatte sie mehr als alle ihre Geschwister genossen. Danach hatte sie bei dem Kampfsportlehrer Tai-Chi-Unterricht genommen. Als sie vierzehn war, hatte ihr Vater bei einer Familienfeier einen Scherz darüber gemacht: Es sei doch ganz sinnvoll, dass sie kämpfen lernte – das könne er respektieren –, aber zu tanzen, während man so tat, als kämpfte man, sehe dumm aus und sei eine Zeitverschwendung. Danach hatte sie nie wieder trainiert. Das war jetzt zehn Jahre her.
Sie öffnete die rote Tür und trat ein. In dem Büro war es beinahe hell. Das eingebaute Display des kleinen Schreibtischs zeigte ein billiges Buchhaltungssystem. Weißes Milchglas ließ ein wenig Sonnenlicht herein, versperrte aber den Blick auf die Straßen von Baltimore. In der Ecke stand ein elegant geformtes Plastiksofa mit dem Logo einer billigen Biersorte, die sich sogar Leute auf Stütze leisten konnten. Zwei grobschlächtige Männer saßen auf dem Sofa. Einer hatte eine implantierte Sonnenbrille, mit der er einem Insekt ähnelte. Der andere trug ein T-Shirt, das die steroidverstärkten Schultern betonte. Diese beiden kannte sie schon.
Travin lehnte am Schreibtisch. Er hatte sich die Haare extrem kurz geschnitten, an den Schläfen war nur noch weißer Puderzucker zu sehen. Der Bart war kaum länger. Er trug das, was in diesen Kreisen als guter Anzug galt. Vater hätte das Ding nicht einmal als Kostüm getragen.
»Ah, schau an, die einzigartige Melba.«
»Sie haben mich erwartet«, sagte sie. Es gab keine Stühle, keinen Sitzplatz, der nicht schon belegt war. Also blieb sie stehen.
»Aber natürlich«, entgegnete Travin. »Ich wusste es, sobald Sie von der Straße hereingekommen sind.«
»Dann sind wir im Geschäft?«, fragte sie schneidend. Travin grinste. Er hatte sich nicht die Zähne richten lassen, dicht über dem Zahnfleisch waren sie grau. Es war ein Ausdruck von Wohlstand: Er war so mächtig, dass er sich nicht um kosmetische Feinheiten scheren musste. Sie empfand nichts als Verachtung für ihn. Er kam ihr vor wie ein altmodischer Sektenführer – er zeigte hohle Symbole der Macht und wusste nicht einmal, was sie bedeuteten. Leider war sie darauf angewiesen, mit ihm Geschäfte zu machen, aber sie war immerhin vornehm genug, um es peinlich zu finden.
»Es ist alles arrangiert, Miss«, erklärte Travin. »Melba Alzbeta Koh, geboren auf Luna als Tochter von Alscie, Becca, und Sergio Koh, alle verstorben. Keine Geschwister. Keine Steuerrückstände. Lizenzierte Elektrochemikerin. Ihr neues Selbst erwartet Sie, was?«
»Und der Vertrag?«
»Die Cerisier befördert ziviles Hilfspersonal zur großen Mission am Ring. Unsere Miss Koh ist mit dabei. Sogar als Vorgesetzte. Ein paar Leute, die Sie beaufsichtigen müssen, aber Sie machen sich nicht selbst die Hände schmutzig.«
Travin zog einen weißen Plastikumschlag aus der Tasche. Durch das
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