Abaddons Tor: Roman (German Edition)
innehalten. Mit der Fingerspitze fuhr sie über seine Schulter, über die Wange und stach ihm dann in die Augen. Sie wünschte jetzt, sie hätte sich ein provozierenderes Skript ausgedacht. Als sie auf der Erde ihre Vorbereitungen getroffen hatte, war ihr die ausschließliche Kontrolle über den Ring als ausreichend erschienen. Jetzt kam ihr dies mit jedem Mal, wenn sie es betrachtete, harmloser vor.
Es wäre einfacher gewesen, Holden zu töten. Mordanschläge waren ein vergleichsweise billiges Vergnügen, aber sie wusste genug über Vorbilder und soziale Dynamik, um zu ahnen, wohin dies geführt hätte: Märtyrertum, Seligsprechung, Liebe. Eine Menge Verschwörungstheorien, die von der AAP bis zu ihrem Vater alle möglichen Leute einbezogen hätten. Das wollte sie geflissentlich vermeiden. Holden musste erniedrigt werden. Man musste daran erinnern, was Holden alles getan und welche Behauptungen er in die Welt gesetzt hatte, all die überzogenen und selbstgerechten Entscheidungen, die er für andere getroffen hatte. Dabei hatte er die ganze Zeit die Kontrolle ausgeübt, und dies hatte natürlich genau zu der Situation geführt, in der sich das System jetzt befand. Sein Name musste in einem Atemzug mit allen großen Verrätern, Verbrechern und überheblichen Egomanen der Geschichte genannt werden. Wenn sie fertig war, würde alles, was Holden je berührt hatte, in einem üblen Licht erscheinen, was auch die Zerstörung ihrer eigenen Familie einschloss.
Irgendwo tief im Inneren der Cerisier führte der Navigator eine winzige Kurskorrektur durch, worauf sich die Schwerkraft um ein halbes Grad verlagerte. Die Liege bewegte sich unter ihr, und sie gab sich Mühe, es zu ignorieren. Es gefiel ihr, wenn sie sich vorstellen konnte, sich in einer Schwerkraftsenke zu befinden, wo sie nicht hilflos der Beschleunigung und den Trägheitsgesetzen ausgeliefert war.
Ihr Handterminal schlug einmal an, was bedeutete, dass sie eine Nachricht bekommen hatte. Wer nicht genau hinschaute, sah nichts weiter als eine von unzähligen Werbebotschaften. Eine Gelegenheit für Investitionen, die zu ignorieren eine große Dummheit wäre, angereichert durch eine Videopräsentation, die jedem, der nicht den passenden Schlüssel besaß, wie eine verstümmelte Datei erscheinen musste. Sie richtete sich auf, schwenkte die Beine über die Kante der Liege und beugte sich über das Handterminal.
Der Mann, der auf dem Bildschirm erschien, trug eine dunkle, fast undurchsichtige Sonnenbrille. Die Frisur war militärisch kurz, trotzdem konnte sie an den Bewegungen der Haare erkennen, dass der Mann mit hohem Schub flog. Der Tontechniker räusperte sich.
»Das Päckchen ist abgeliefert und bereit zum Testen. Es wäre mir recht, wenn die Restzahlung angewiesen wird, sobald Sie sich vergewissert haben. Ich muss demnächst einige Rechnungen begleichen und stehe ein wenig unter Druck.« Im Hintergrund zischte etwas, in der Ferne lachte jemand. Eine Frau. Damit endete die Aufzeichnung.
Sie spielte die Datei noch viermal ab. Ihr Herz raste, die Finger fühlten sich an, als zuckten kleine Stromstöße durch sie hindurch. Natürlich musste sie sich vergewissern. Dies war der letzte, gefährlichste Schritt. Die Rosinante hatte eine erstklassige militärische Ausrüstung besessen, als sie Holden in die Hände gefallen war. In den vergangenen Jahren hatte es in den Sicherheitssystemen allerdings jede Menge Veränderungen gegeben. Über einen anonymen Zugang auf der Ceres-Station richtete sie eine einfache Datenverbindung ein. Möglicherweise dauerte es Tage, bis die Rosinante meldete, dass die Hintertür installiert und funktionsfähig war, und das Schiff ihr gehörte. Wenn es so weit war …
Das war der letzte Teil, dann war alles an Ort und Stelle. Sie empfand eine beinahe mystische Glückseligkeit, als ihr dies bewusst wurde. So freundlich war ihr der winzige Raum mit den verkratzten Wänden und den viel zu hellen LEDs noch nie vorgekommen. Sie wollte feiern, aber natürlich gab es niemanden, mit dem sie darüber hätte reden können. Vielleicht reichte es auch, einfach nur mit jemandem zu plaudern.
Die Gänge der Cerisier waren so eng, dass man zwangsläufig etwas ausweichen musste, wenn man anderen Passagieren begegnete oder jemanden überholen wollte. In der Messe fanden zwanzig Gäste Platz, wenn sie eng saßen und sich an den Hüften berührten. Der Raum, der einem wirklich offenen Bereich am nächsten kam, war das Fitnesszentrum neben der Krankenstation.
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