Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abaddons Tor: Roman (German Edition)

Abaddons Tor: Roman (German Edition)

Titel: Abaddons Tor: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James S. A. Corey
Vom Netzwerk:
bis Anna spontan sagte: »Ich glaube, ich hätte gar nicht herkommen dürfen.«
    Tilly nickte ernst, als hätte Anna gerade eine große Weisheit verkündet. »Das gilt hier wohl für alle.«
    »Wir beten, wir lassen uns fotografieren und halten interkonfessionelle Treffen ab«, fuhr Anna fort. »Aber wissen Sie, worüber wir niemals reden?«
    »Über den Ring?«
    »Nein. Ich meine, ja. Ich meine, wir reden die ganze Zeit über den Ring. Was er ist, wozu er dient, warum das Protomolekül ihn hergestellt hat.«
    Tilly schob den Salat weg und kaute eine weitere Pastille. »Und was dann?«
    »Ich meine das, was ich mir anfangs vorgestellt habe. Ich dachte, wir reden darüber, welchen Sinn er hat. Auf diesem Schiff sind fast hundert religiöse Anführer und Theologen versammelt. Aber kein Einziger redet über den Sinn des Rings.«
    »In Bezug auf Gott?«
    »Nun ja, man sollte doch mal über Gott reden. Theologische Anthropologie ist erheblich einfacher, wenn die Menschen die einzigen Geschöpfe mit Seelen sind.«
    Tilly winkte dem Kellner und bestellte einen Cocktail, von dem Anna noch nie gehört hatte. Der Kellner wusste allerdings Bescheid und eilte davon, um ihn zu holen. »Das scheint eines der Themen zu sein, für die ich einen Drink brauche«, sagte sie. »Fahren Sie fort.«
    »Wie passt das Protomolekül in all dies hinein? Lebt es? Es tötet uns, aber es errichtet auch erstaunliche und äußerst fortschrittliche Bauwerke. Ist es ein Werkzeug, das jemand benutzt, der uns ähnelt und lediglich klüger ist? Und wenn das zutrifft, sind es Geschöpfe, die ein Gefühl für das Göttliche haben? Glauben sie? Und wie sieht ihr Glaube aus?«
    »Sofern sie überhaupt von demselben Gott erschaffen wurden.« Tilly rührte den Drink, den der Kellner soeben gebracht hatte, mit einem kurzen Strohhalm um und trank einen Schluck.
    »Nun ja, für einige von uns gibt es nur einen«, erwiderte Anna. Sie bat den Kellner um einen Tee. Als er fort war, sagte sie: »Dies stellt all unsere Vorstellungen von der göttlichen Gnade infrage. Nun ja, nicht ganz und gar, aber es macht die Sache zumindest sehr kompliziert. Die Wesen, die das Protomolekül geschaffen haben, sind intelligent. Heißt dies, dass sie auch Seelen besitzen? Sie dringen in unser Sonnensystem ein, töten uns nach Belieben und stehlen unsere Ressourcen. Würden wir es selbst tun, dann würden wir dies als Sünde bezeichnen. Heißt dies, dass sie aus der Gnade gefallen sind? Ist Christus auch für sie gestorben? Oder sind sie intelligent, aber seelenlos, und das Protomolekül ist nur ein Virus, das tut, wozu es programmiert ist?«
    Eine Gruppe ziviler Arbeiter in Overalls kam herein und setzte sich. Sie bestellten ihr Essen beim Kellner und begannen eine lautstarke Unterhaltung. Anna ließ sich gern ablenken und dachte zugleich über die Sorgen nach, die sie bisher noch nicht in Worte gefasst hatte.
    »Das alles ist auch für mich nur graue Theorie«, fuhr sie fort. »Vielleicht sollte das alles unseren eigenen Glauben nicht berühren, aber ich habe eine starke Ahnung, dass genau dies geschehen wird. Für die meisten Menschen wird es durchaus eine Rolle spielen.«
    Tilly nippte langsam an ihrem Drink, was, wie Anna aus Erfahrung wusste, bedeutete, dass sie das Gespräch ernst nahm. »Haben Sie schon mal mit jemandem darüber gesprochen?«, wollte Tilly wissen.
    »Cortez benimmt sich, als hätte er die Oberaufsicht«, erwiderte Anna. Ihr Tee kam. Sie blies eine Weile darauf, um ihn abzukühlen. »Vielleicht sollte ich mit ihm reden.«
    »Cortez ist Politiker«, entgegnete Tilly und grinste geringschätzig. »Lassen Sie sich nicht durch sein leutseliges Getue als Vater Hank täuschen. Er ist hier, weil er Macht hat, solange Esteban im Amt ist. Das ganze Kaspertheater dient ausschließlich dem Gewinn von Wählerstimmen.«
    »Das gefällt mir nicht«, antwortete Anna. »Ich glaube Ihnen. Sie durchschauen das alles viel besser als ich. Aber ich mag es nicht, dass Sie recht haben. Was für ein Unsinn.«
    »Um was würden Sie Cortez denn bitten?«
    »Ich würde gern ein paar Gruppen organisieren und mich mit den Leuten unterhalten.«
    »Brauchen Sie dazu seine Erlaubnis?«, fragte Tilly.
    Anna dachte über ihre letzte Unterhaltung mit Nono nach und lachte. Als sie schließlich antwortete, klang es sehr nachdenklich.
    »Nein«, erwiderte sie. »Wohl nicht.«
    In dieser Nacht wurde Anna von einem schrillen Alarmsignal aus dem Schlaf gerissen, nachdem sie geträumt hatte, wie sie

Weitere Kostenlose Bücher