Abaddons Tor: Roman (German Edition)
Rache erforderte Blutvergießen, das ließ sich nicht vermeiden. So lief es eben, und sie hatte sich zum Instrument der Rache gemacht.
Rens Tod war nicht ihre Schuld. Auch das ging auf Holdens Konto. Holden hatte ihn getötet, indem er ihre Gegenwart notwendig gemacht hatte. Hätte er die Ehre ihrer Familie respektiert, dann wäre all dies nicht geschehen. Sie stand auf, reckte die Schultern und bereitete sich innerlich darauf vor, ihre Arbeit zu erledigen und die Thomas Prince auf Vordermann zu bringen, genau wie es die echte Melba getan hätte.
»Tut mir leid, Ren«, sagte sie und dachte, es sei das letzte Mal. Der Kummer erschütterte sie und zwang sie, sich wieder zu setzen.
Etwas stimmte nicht. So hätte es nicht laufen sollen. Sie verlor die Selbstbeherrschung und fragte sich, ob all das, was sie getan hatte, am Ende doch zu viel für sie gewesen war. Vielleicht gab es auch andere Gründe. Vielleicht hatten die künstlichen Drüsen auch ohne bewusste Aktivierung Gifte in ihren Blutkreislauf ausgeschüttet. Sie wurde emotional labil. Das konnte durchaus ein Symptom sein. Sie legte den Kopf auf die Arme und versuchte, ihren Atem zu beruhigen.
Er war freundlich mit ihr umgegangen. Er war nichts als freundlich gewesen. Er hatte ihr geholfen, und sie hatte ihn dafür getötet. Sie spürte immer noch, wie sein Schädel unter ihrer Hand nachgab – spröde und empfindlich, als stünde sie auf einer Uferböschung, die unter den Füßen einbrach. Ihre Finger rochen immer noch nach Dichtungsschaum.
Ren berührte sie an der Schulter, sie riss den Kopf hoch.
»Hallo«, sagte jemand. »Ich bin Anna. Wie heißen Sie?«
Es war die Rothaarige, die gerade noch mit dem Marineoffizier gesprochen hatte.
»Ich habe Sie hier sitzen sehen.« Die Frau ließ sich nieder. »Es kam mir so vor, als könnten Sie etwas Gesellschaft brauchen. Es ist in Ordnung, wenn man Angst hat, das kann ich gut verstehen.«
Sie weiß Bescheid.
Der Gedanke durchzuckte Melba wie ein Blitzschlag. Sie musste nicht einmal den Gaumen mit der Zunge berühren, um zu spüren, dass die Drüsen und Speicher in ihrem Körper zum Platzen gefüllt waren. Gesicht und Hände waren kalt. Ehe die Frau erstaunt die Augen aufreißen konnte, waren Melbas Kummer und Schuldgefühle einer kalten Wut gewichen. Diese Frau wusste Bescheid und würde alles auffliegen lassen, und dann wäre all die Mühe vergebens gewesen.
Sie erinnerte sich selbst nicht mehr, wie sie aufgesprungen war, doch nun stand sie. Auch die Frau erhob sich und wich einen Schritt zurück.
Ich muss sie töten.
»Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht stören.«
Die Frau hatte die Hände gehoben, als sei sie der Ansicht, damit einen Schlag abwehren zu können. Es wäre ganz einfach, sehr stark schien sie nicht zu sein. Diese Frau war keine Kämpferin. Ein Tritt in den Bauch, und sie würde verbluten. Nichts war einfacher als das.
Dann sagte ein Stimmchen in Melbas Hinterkopf: Sie ist eine dieser idiotischen Geistlichen, die dauernd jemanden retten wollen. Sie hat keine Ahnung. Du bist hier in der Öffentlichkeit. Wenn du sie jetzt angreifst, werden sie dich schnappen.
»Sie kennen mich nicht.« Melba hatte Mühe, ruhig zu antworten. »Sie wissen rein gar nichts.«
An einem der Tische nahe an der Tür stand ein junger Offizier auf und machte zwei Schritte in ihre Richtung, um einzugreifen. Wenn diese Frau dafür sorgte, dass man Melba in den Bau steckte, würde man sie unter die Lupe nehmen und Rens Leiche finden. Man würde herausfinden, wer sie wirklich war. Sie musste sich aus der Affäre ziehen.
»Sie haben recht. Verzeihung«, entgegnete die Frau.
Auf einmal sah Melba sich von einem glühenden Hass erfüllt, der ihr tiefschwarz vorkam, wo er nicht gleißend rot war. Ein ganzer Schwarm von Beleidigungen stand in ihrer Kehle bereit, sich über die beschränkte Priesterin zu ergießen, die alles, aber auch wirklich alles gefährdete. Melba schluckte es herunter und marschierte rasch davon.
Die Gänge, durch die sie auf der Thomas Prince lief, bemerkte sie kaum. Die Sache mit Ren hatte sie aus der Bahn geworfen. Es hatte sie abgelenkt und sie verleitet, Risiken einzugehen, die sie nicht hätte eingehen müssen. Sie hatte nicht mehr klar denken können, aber das hatte sich jetzt geändert. Entschlossen stieg sie in den Aufzug und wählte die Ebene, auf der Stanni und Soledad die Stromversorgung überprüften, um die ausgefallene Komponente zu finden. Dann wählte sie die Etage wieder ab und fuhr
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