Abaton
Erde, da war sie sich sicher.
Edda lauschte und von ferne nahm sie auf einmal Signale wahr, wie einen Puls, kaum hör-, aber spürbar. Sie hob den Kopf und auf der Wand gegenüber war plötzlich ein Bild.
Ein Bild von ihr.
Der Gedanke, Edda zu verlieren oder dass ihr etwas zustoßen könnte, ließ Simon mit voller Wucht gegen die Metalltür treten. Es half nichts. Selbst mit einem stabilen Brieföffner vom Schreibtisch gelang es ihm nicht, die schwere Tür auch nur einen Spaltbreit zu bewegen.
Er legte das Ohr an die Tür. Rief nach Edda. Nichts.
Wieder betätigte er wahllos die Schalter.
[ 1318 ]
Edda sah, wie ihr Bild verschwand.
Sie rieb sich die Augen. Wurde sie wahnsinnig? Kaum dachte sie das, tauchte ein neues Bild auf, wie aus einem alten Film, schwach und verblichen, schimmerte es auf der Wand. Nein, Edda irrte sich nicht. Das war sie. Aber wo sollte das Bild herkommen? Es zeigte Edda und noch jemanden, jemanden, den Edda kannte, aber den sie nicht identifizieren konnte.
Plötzlich wurde ihr klar: Die Bilder waren nicht aus Eddas Vergangenheit. Sie waren aus ihrer Zukunft. Aber wie konnte das sein?
Edda schloss die Augen. Ihr wurde schlecht. Sie bildete sich diese Bilder nur ein. Das war die Lösung. Wenn sie die Augen schloss, waren sie ver-
schwunden.
Edda versuchte, sich zu beruhigen. Sie musste ein paar Minuten durchhalten, ohne die Bilder zu sehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man sie aus dem Fahrstuhl retten würde. Simon war ja nicht blöd. Überhaupt nicht. Sie hatte sich gefreut, ihn wiederzusehen, auch wenn sie ihn kaum wiedererkannt hatte. Etwas an ihm war anders, machte ihr Angst. Machte sie unsicher.
War er nicht der andere auf den Bildern, die sie eben gesehen hatte?
Vorsichtig öffnete sie die Augen und blickte auf die Wand. Bilder von einem Unglück waren zu sehen. Hastig schloss sie die Augen wieder. Was, wenn Simon etwas passiert war?
Edda spürte, dass diese Gedanken nirgendwohin führten. Sie musste sich auf das Positive konzentrieren: Sie war gekommen, um der Spur zu ihrer Großmutter und der Kraft nachzugehen, die ihr ein schöner Traum geschenkt hatte. Doch wie konnte Edda sichergehen, dass ihre Intuition die Richtige war? Ihr Instinkt. Ihre Gefühle.
Eddas Körper versteifte sich. Immer feiner und genauer zog jetzt ihr Verstand seine Schlingen, um die Fragen, auf die Edda gern eine Antwort gehabt hätte. Sie webten ein dichtes Netz, das nur scheinbar aus Einsichten und Selbsterkenntnis gemacht war.
In Wirklichkeit schnürte es ihr jede Handlungsmöglichkeit ab. Sie spürte, dass ihr Körper erstarrte und sie sich weiter in ihren Kopf zurückzog, bis sie vor der Kiste mit den schönen Erinnerungen kniete und ihren Kopf hineinsteckte. Vor Angst, dass sich die anderen Kisten ebenfalls öffnen würden und sie sehen musste, was war, was ist und was sein könnte. Dann war es zu spät. Dann gab es keine Brücke mehr in die Welt der schönen Gedanken. Keinen Trost und keinen Beistand. Dann gab es nur noch Gefühle, die längst angefangen hatten, sie zu fluten.
Edda spürte vor allem, dass sich eine Frage durch all diese Gedanken und Gefühle zu drängen begann und immer klarer wurde. Eine Frage, die Edda immer vermieden hatte.
Weil es keine Antwort darauf gab.
Und weil Edda Angst hatte, dass sie wahnsinnig werden würde, wenn sie sich diese Frage stellte.
Und sie wusste, wenn sie die Augen öffnen würde, dann würde diese Frage auf der Wand erscheinen. Edda drückte die Augen noch fester zu und hielt sich die Hände davor.
[ 1319 ]
Noch einmal machte sich Simon an den Schaltern neben der Tür zu schaffen.
Wieder bewegte sich nichts.
Delta, Tetra, Beta, Alpha.
In wahlloser Reihenfolge betätigte er die Schalter. Immer verzweifelter.
Jetzt zeigten alle nach oben.
[ 1320 ]
Die Hände vor die Augen gepresst, kippte Edda zur Seite. Ihre Atmung ging stoßweise. Sie wälzte sich auf dem Boden. Und die Frage wurde noch dunkler und stärker.
Was war nur los mit ihr?
Was war geschehen?
In Eddas Kopf verschmolz ihr Leben zu einer einzigen Masse. Sie warf einen schnellen Blick auf die Wand, sah ihre Mutter, die in der Anstalt saß, ihren Vater, den sie nie kennengelernt hatte, den toten Shiva und die vielen unerklärlichen Dinge in Indien. Die Schlangen, die sich mit den Bildern mischten, die sie gerade gesehen hatte, mit den Gefühlen, Ahnungen und Gewissheiten, auf die ihr junges Leben gegründet war. Immer drängender wurde die Frage, die sie sich nicht stellen
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