Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
„Das ist die Lösung!“ Er machte einen Schritt auf den Tisch zu und setzte sich, als wolle er seinen Schnürsenkel binden.
„Ich rufe mal besser die Polizei! Eure Eltern werden sich Sorgen machen“, drohte Thorbens Mutter mit fiesem Unterton. „Aber wahrscheinlich sind sie eher froh, dass sie mal ein paar Tage Ruhe hatten.“
Im gleichen Augenblick, als Simon die Scheine aus dem Portemonnaie zog, beugte sie sich zu ihrer Handtasche, um ihr Handy zu nehmen. Für eine Sekunde begegneten sich die Blicke der beiden. Es gab keinen Zweifel: Simon hatte das Geld in der Hand. Es war totenstill. Jeder wartete darauf, dass die Mutter anfangen würde zu schreien und Simon das Geld zurücklegte. Doch nichts davon geschah.
Simon steckte das Geld ein.
„Hau´n wir ab“, sagte er kurz und ging seelenruhig auf die Tür zu. Edda und Linus zögerten einen Augenblick. Edda schluckte. Thorbens Mutter griff zum Handy, aber Simon fiel ihr in die Hand. Die Mutter versuchte sich loszureißen. Simon nahm ihr einfach das Handy weg.
„Lassen Sie das! Wir müssen gehen. Schnappt eure Sachen.“
Die Mutter starrte auf Simons Kopf und sah die Tätowierung, die allmählich überwachsen wurde, seine sehnigen Arme.
„Du Verbrecher!“
„Gib ihr das Geld zurück“, sagte Edda bestimmt.
„Nein“, sagte Simon. „Wir brauchen Geld! Wie willst du ohne Geld in dieser Stadt leben? Siehst doch, dass sie uns nicht mal was zu fressen geben würde.“
„Wir können nicht anfangen zu klauen!“
„Wir können nicht früh genug anfangen zu klauen, meinst du.“ Er steckte das Geld und das Handy ein. Linus nahm es ihm wieder ab und legte es auf den Tisch.
„Damit wären wir jederzeit zu orten.“
„Gehen wir!“, sagte Simon nach kurzem Zögern und sah die anderen beiden an. „Wir haben kein Benzin und nichts zu fressen. Wir wissen nicht, wo wir pennen können.“
„Aber du kannst doch meiner Mutter nicht einfach die Kohle klauen!“ Jetzt klang Thorben beunruhigt.
Unschlüssig standen die drei im Zimmer herum.
„Ich geb euch was von meinem Geld“, unterbrach Thorben das Schweigen und stellte sich vor Simon.
„Das wirst du nicht!“, sagte Thorbens Mutter.
Er aber rannte in sein Zimmer und kam kurz drauf mit einem Stapel Scheinen zurück.
„Hier. Gib meiner Mutter das Geld zurück!“
Simon nickte und wollte der Mutter die Scheine wiedergeben, doch die setzte sich an den Tisch, legte den Kopf auf die Arme und begann zu schluchzen.
„Wenn Ihnen nichts mehr einfällt, fangen Sie an zu heulen“, sagte Simon und legte das Geld auf den Tisch. Es sollte hart klingen, aber er merkte selbst, dass es nicht sehr überzeugend rüberkam. Betroffen schauten Edda und Linus zu, wie Thorben zu seiner Mutter ging, den Arm um sie legte und sich neben sie an den Tisch setzte.
„Jetz wein doch nicht, Mama.“
„Du kriegst das Geld von mir zurück“, versprach Edda. „Bestimmt, Thorben.“
Thorben nickte. Enerviert wandte Simon den Kopf und ging auf den Flur. Zögerlich folgten ihm Edda und Linus.
Dann bekam Thorben wieder das Gesicht eines Politikers, der seine Parteigenossen hinter sich vereinen wollte.
„Wir werden diese Krise meistern, so wie wir bisher alle Krisen gemeistert haben.“
Thorbens Mutter hob den Kopf und starrte auf ihren Sohn und dann auf Edda.
„Das Schicksal prüft uns schwer. Aber wir gehören zusammen und nichts wird uns auf Dauer auseinanderbringen. Ich bin ein Berliner.“
Fassungslos standen Edda, Linus und Simon einige Sekunden später vor der Tür.
„Familie ist die Brutstätte des Wahnsinns“, sagte Linus und die anderen beiden lachten.
„Wir sind frei!“
Linus stieß einen Schrei aus und sprang in die Luft, doch die anderen beiden wollten nicht einstimmen. Edda spürte, wie die feuchte Kühle des Herbstes durch die dünne Jacke bis in ihre Knochen zog. Sie schlug den Kragen hoch. Sie fühlte sich schwach und verletzlich, und am liebsten hätte sie sich bei einem der Jungen eingehakt, aber das hätte sie sicher dem anderen erklären müssen und dafür fühlte sie sich zu müde. Besser, wenn alles neutral blieb.
Wie erwachsen das klang. Wie einsam sie dieser Gedanke machte. Sie schaute auf Linus und Simon, die vor ihr her auf die Tankstelle zuliefen, die am Ende der Häuserschlucht lag wie eine verlassene Raumstation aus einem billigen Science-Fiction-Film. Sie empfand eine Nähe zu den beiden, wie sie sie vorher nicht gekannt hatte. Sie war wegen eines hübschen Jungen in dieses
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