Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
Simon sah es an den Lichtspiegelungen auf den polierten Gleisen. Sie krochen immer näher. In wenigen Sekunden würde der Zug hier sein. Simons Gedanken rasten. Gingen zurück zu David. Zu dem Moment, in dem er ins Eis einbrach. Als Simon sich auf den Bauch warf und an das Loch heranrobbte. Aber da war nur noch schwarze, leere Tiefe. Simon spürte denselben Schmerz wie damals. Und er gab auf. Aber da war plötzlich eine Stimme in seinem Kopf.
„Kämpfe. Du musst kämpfen!“ War das Davids Stimme? Simon hob den Kopf. Die Lichter des Zuges bauten sich vor ihm auf. Er setzte die Zange an. Schnell und präzise, am ersten Gelenk seines gefesselten Fingers. Dann drückte er zu. Mit einer Kraft, die er gar nicht hatte. Aber in diesem Moment war sie da. Simon hörte das knirschende Geräusch des Knorpels. Es war lauter als das Signal des ICE, dessen Lichter Simon nun erfasst hatten. Er hatte sich aufgerichtet. Zwei schnelle Bewegungen noch und er hatte die Seile durchtrennt, die seine Füße fixierten. Dann war der Zug da. Wie ein Schlag. Der Lokführer hatte die Notbremsung eingeleitet. Die Bremsen blockierten die Räder. Ein schmerzendes Kreischen fraß sich in die Nacht. Und dennoch schoss der Zug über Simon hinweg.
Fassungslos und still waren die Zuschauer. Der Gang war das Lachen vergangen. Simon war nirgendwo zu sehen. Immer langsamer wurde der Zug. Der Russe schaute „Marilyn“ an. Da war Angst in seinem Blick.
Nach einer Ewigkeit kam der Zug zum Stehen. Das Kreischen der Brem sen verstummte. Was blieb, war das Entsetzen von Edda und Linus.
Eine Geste des Anführers, stumm und schnell, ließ die Jungs der Gang verschwinden. Unfähig sich zu bewegen und unter Schock blieben Linus und Edda zurück. Da tauchte ein Schatten hinter dem letzten Waggon des ICE auf. Er kam auf Edda und Linus zu. Kerzengerade und ohne zu schwanken ging er voran. Simon! Sofort eilten Edda und Linus auf ihn zu. Nahmen ihn in den Arm, führten ihn weg. In ihr „Zuhause“. Da saß Simon, ignorierte die klaffende Wunde und sagte kein Wort.
„Wir müssen weg!“, drängte Linus. „Er muss ins Krankenhaus!“ Von draußen waren Stimmen zu hören, die näher kamen. Hastig packte Linus mit Edda alles zusammen, was wichtig war. Den Laptop, ihre wenigen Klamotten, Olsens Geräte, den Campingkocher, Simons Jacke. Alles verteilten sie auf ihre Rucksäcke. Sie nahmen Simon zwischen sich, stützten ihn und verließen im Schatten des Gebäudes ihr Heim. Auf der anderen Seite des Gebäudes waren Menschen am Gleis des ICE angekommen. Bahnpolizei und Schaffner. Taschenlampen leuchteten herum, bis schließlich einer etwas Kleines, Längliches aufhob und emporhielt. Ein Stück Finger.
| 2213 |
Die Befreiung von Marie war missglückt. Sie saßen in der Umkleide des alten Schwimmbads und starrten auf den schmutzigen Verband um Simons Hand. Nur noch ein paar Lagen, dann würde Simon die vier Finger seiner linken Hand sehen. Vor allem aber den Stumpf des Mittelfingers. Er zögerte, blickte die beiden anderen an.
„Irgendwann musst du“, sagte Linus.
Vorsichtig wickelte Simon den Verband ab. Schicht um Schicht kam Simon dem Anblick näher, den er bisher gefürchtet hatte. Er hatte die Augen geschlossen, als er auf den Gleisen die Hebel der Zange mit einem verzweifelten Ruck zusammengepresst hatte. Den Schmerz hatte gar nicht gespürt. Später aber, mit dem Bewusstwerden, was geschehen war, war der Schmerz da. Pochend. Und mit jedem Herzschlag heftiger. Als er den Finger kappte jedoch, hatte Simon nur das Entsetzen in all den Gesichtern erblickt, die ihn beobachteten. Sogar die Mitglieder der Gang waren verstummt. Und für einen Moment hatte er auch die Tränen in Eddas Augen gesehen. Dann kappte Simon die Seile, die ihn auf den Gleisen hielten und rollte sich zur Seite. Rechtzeitig. Edda und Linus waren bei ihm, als er auf sie zuging und dabei fast ohnmächtig wurde.
Simon atmete tief. Blutig war der Teil des Verbandes, den er jetzt ablöste. Voll getrockneten Blutes. Dann nahm er vorsichtig die letzte Lage weg. Er musste kurz daran reißen, weil sie festklebte. Simon zuckte und ärgerte sich sofort, dass er vor Edda den Eindruck gemacht hatte, er würde den mickrigen Schmerz nicht aushalten. Er schaute auf den Stummel von Finger, der ihm geblieben war. Unterhalb des zweiten Gelenks hatte Simon den Finger abgetrennt. Neugierig betrachtete er ihn von allen Seiten. Linus und Edda konnten nicht fassen, dass Simon lächelte.
„Was? Was ist so
Weitere Kostenlose Bücher