ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
zu sehen. Hinter ihm näherte sich von fern ein Bus, der gerade seine Lichter einschaltete, weil sich der Himmel zugezogen hatte.
Wo war die Haltestelle? Simon entdeckte sie und hatte noch ein ganzes Stück Weg vor sich, wenn er den Stopp rechtzeitig vor dem Bus erreichen wollte. Er überwand sich und rannte los. Sturm kam auf und trieb den Regen waagerecht über das Land. Simon kämpfte sich voran. Bereits nach den ersten Metern war er völlig durchnässt. Schon war das Gewitter über ihm. Mit einem Krachen, das er in seinem Körper spürte, jagte der nächste Blitz vom Himmel. Keine fünfzig Meter entfernt schlug er in die Erde ein. Kurz kam Simon in den Sinn, wie Edda von ihren gläsernen Blitzen erzählt hatte, die sie mit Marie nach Gewittern aus dem Sand ausgebuddelt hatte. Wieder zuckte das grelle Licht eines Blitzes herab. Es war Simon, als kämen sie näher. Als verfolgten sie ihn. Er hetzte weiter voran. Seine Lunge brannte. Wieder ein Blitz. Und noch einer. Die Donner verschmolzen zu einem einzigen, nicht enden wollenden Grollen, das sich bedrohlich über die Erde legte. Noch ein paar Hundert Meter, bis Simon das Wartehäuschen erreichen würde, und der unbekannte Feind, der vom Himmel aus Blitze nach ihm schleuderte, gab nicht auf. Er traf eine Laterne, auf die Simon zulief. Simon wollte ignorieren, dass der Einschlag den Metallteil am oberen Ende der Laterne verformt hatte. Doch als er sie passierte, war es Simon, als hörte er ein zischendes Flüstern.
„Ssssimon!“
Nur die verschmorenden Kabel, dachte Simon. Nichts weiter. Nichts Besonderes.
„Ssssimon!“
Er versuchte, seine letzten Kräfte zu mobilisieren. Noch lange nicht hatte er die Haltestelle erreicht, da war auf einmal der Bus neben ihm. Passierte. Simon gab auf, blieb erschöpft stehen. Am Ende. Aber der Bus hielt an. Blinkte. Hupte. Simon lief hin. Der Fahrer hatte schon die Tür geöffnet.
„Komm rein, Junge“, sagte der Fahrer. „Du holst dir ja den Tod.“
Simon war so froh über die Freundlichkeit dieses Mannes, dass ihm Tränen in die Augen traten.
„Wohin?“, fragte der Fahrer.
„Bahnhof“, sagte Simon, nachdem er sich geräuspert hatte. „Irgendein Bahnhof.“ Dann seufzte er. „Hab aber kein Geld.“
Der Fahrer musterte ihn, und in Simons Gesicht war so viel Ehrlichkeit, dass der Fahrer nicht weiter darauf einging.
„Setz dich in die dritte Reihe, da ist die Heizung“, sagte er. Damit schloss er die Tür und fuhr los. Simon spürte, dass der Mann kein „Danke“ wollte.
Er setzte sich auf einen Platz in der dritten Reihe und streckte die Beine aus. Die warme Luft der Heizung blies in seine Hosenbeine und wärmte von unten herauf seinen ganzen Körper. Simon schaute aus dem Fenster. Er spiegelte sich und sah, dass Teile seiner Haare vom Kopf abstanden, als wären sie aufgeladen von der Elektrizität, die die Luft um ihn angefüllt hatte. Er kratzte sich. Sein Kopf juckte.
Draußen hatte sich der Himmel gegen die Erde verschworen. In schneller Folge jagte er Blitze in Bäume, in einen Kirchturm; in die Erde. Edda hätte heute eine Menge dieser Glas gewordenen Energie finden können, dachte Simon.
Das Donnern und Grollen nahm kein Ende. Regentropfen zitterten in langen, waagerechten Schlieren über die Scheibe. Simon sah ihnen hinterher und wendete den Kopf zum hinteren Teil des Busses. Außer ihm waren nur noch zwei Hausfrauen unterwegs, die sich über irgendwelche Banalitäten des vergangenen Fernsehabends austauschten. Simon wandte sich wieder nach vorn. Sein Blick traf den des Busfahrers im Rückspiegel. Er lächelte. In der Wärme, der Freundlichkeit des Fahrers fühlte sich Simon geborgen. Er hoffte, dass die Fahrt noch lange dauern würde.
Er hatte sich bei Olsen nicht einmal für die Rettung bedankt. So eilig hatte er es gehabt, neuen Verpflichtungen und Kämpfen zu entkommen. Hatten ihn die Blitze zur Strafe verfolgt? Simon lächelte über diesen Gedanken. „Instant Karma“, hätte Edda gesagt. Er versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Was war jetzt sein Ziel? Sogleich kam ihm sein kranker Vater in den Sinn. Ja, Simon wollte nach Berlin. Er wollte jetzt für seinen Vater da sein. Wollte mit ihm reden. Er hatte das Gefühl, dass sein Vater ihn brauchte. Er musste zurück nach Berlin. Ohne Geld. Mit Hunger. Sein Magen knurrte. Er schloss die Augen, und seine Müdigkeit half ihm, den Hunger zu ignorieren. Simon schlief ein.
„He! Junge ...!“
Der Busfahrer hatte ihn an der Schulter gestupst
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