ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
Jimmy zeigte ihr, wie man schaltete, und Marie lenkte den Wagen auf einen sandigen Feldweg. Sie fuhr langsam in Richtung eines kleinen Waldstücks. Jimmy legte seine Hand auf ihre und half ihr beim Lenken und beim Bedienen der Dreigangschaltung. Langsam schob sich der Wagen über den weichen Boden, als Marie das Gas mit der Kupplung verwechselte und der Wagen mit einem Ruck stehen blieb. Erschrocken schaute sie Jimmy an. Der lachte laut.
„Abgewürgt!“
„Na und?“
Marie spürte, wie sie wütend wurde. Jimmy wollte wieder auf den Fahrersitz.
„Erst will ich fahren“, sagte sie mit einem Mal störrisch.
„Wir müssen weiter“, sagte Jimmy. „Autofahren kann man nicht an einem Tag lernen.“
„Ich schon. Eingebildeter Affe!“
Jimmy imitierte einen Schimpansen und Marie lachte. Sie konnte ihm nicht lange böse sein.
„Ich zeig’s dir später. Wir müssen sehen, dass wir nach Hamburg kommen.“
Obwohl Marie wusste, dass er recht hatte, wollte sie nicht nachgeben.
„Es wird bald dunkel und dann dürfen wir nur noch mit Tarnlicht fahren“, beharrte Jimmy geduldig. Marie zog eine Schnute und wollte Jimmy zähneknirschend das Steuer überlassen.
„Okay. Bis zu Hauptstraße ...“, sagte Jimmy.
„Ich kann nicht wenden.“
Jimmy rutschte hinter Marie auf den Fahrersitz und stellte ihr Bein auf das Gaspedal. Sie roch seine Haut, die immer etwas nach Feuerholz duftete. Er trat die Kupplung, legte den Rückwärtsgang ein und schlug das Lenkrad herum. Marie presste ihren Rücken an Jimmys Brust. Dann drückte sie das Pedal herunter und der Wagen schoss ein kleines Stück nach hinten. Eilig nahm Marie den Fuß vom Pedal. Jimmy schaltete zurück, drehte das Lenkrad und ließ Marie den Rest des Weges zur Landstraße fahren. Dann bremste er, legte den Leerlauf ein und drehte den Zündschlüssel herum.
„Was ist?“
Er antwortete nicht.
Plötzlich spürte Marie, dass etwas anders war und wie ihr Herz zu schlagen begann. In den letzten Wochen hatte sie immer mehr Zeit mit Jimmy verbracht, und obwohl sie noch keine Ahnung hatte, wie sich Liebe anfühlte, war sie sicher, dass sie sich in den jungen Mann mit den kurzen lockigen Haaren, den breiten Schultern und dem Lachen, das immer zuerst in seinen Augen auftauchte und dann auf sie übersprang, verliebt hatte. Sie verbrachte mehr Zeit als sonst vor dem Spiegel, und wenn sie sich morgens anzog, überlegte sie, ob ihm das Kleid oder die Hose wohl gefallen würde. Diese Gefühle bereiteten Marie Angst. Deshalb brach sie immer wieder einen Streit vom Zaun, um es meistens hinterher zu bereuen. War sie vielleicht zu kindisch für ihn? War es das, was er ihr jetzt sagen wollte? Als Marie sich zu ihm umdrehte, küsste er sie auf den Mund.
„Ich werde nicht mit dir zurückkommen aus Hamburg. Ich fahre heute Abend ab“, sagte er stattdessen.
Marie starrte ihn an. „Aber ... wohin denn?“ Sie spürte, wie ihr schlecht wurde. Ihr ganzes Leben erschien ihr mit einem Mal verpfuscht und überflüssig
„Morgen früh verlässt ein Schiff den Hafen. Es ist die letzte Chance für mich, das Land zu verlassen.“
„Aber ...“
„Ich habe einen Freund in Hamburg, der mir einen Platz besorgt hat auf dem Dampfer.“
„Warum hast du mir nichts gesagt?“
Für einen Augenblick schien sich alles um Marie herum zu drehen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Von dem Tag an vor fast einem Jahr, als Jimmy mit seiner Klarinette und seinem alten Pappkoffer auf der Schwelle ihres Hauses in Cuxhaven gestanden hatte, wusste sie, dass er ihr Leben verändern würde. Sie vertraute ihm, und im Verlauf des Jahres hatte sie herausgefunden, dass auch sie ihm etwas bedeuten musste und dass Jimmy nicht etwa eine Freundin in Hamburg hatte, sondern dort Freunde besuchte, die Swing-Musik machten. Musik, die verboten war.
„Ich habe es selbst erst gestern erfahren ...“, sagte Jimmy. Sie spürte die Trauer in seiner Stimme. „Ich hatte Angst, du würdest dann nicht mitkommen nach Hamburg. Also habe ich ... den Ausflug erfunden.“
„Wohin fährt denn das Schiff?“, wollte Marie wissen.
„Nach ... New York.“
Marie spürte einen Stich in ihrem Herzen. Mit New York konnte sie nicht konkurrieren. Das war Jimmys Traum vom Jazz, vom neuen Leben – und es war auch ihr Traum. Aber sollte sie ihren Vater im Stich lassen? Bernikoff brauchte sie. Das Land stand vor dem Untergang, und seit Marie Hitler im Hof hinter dem » Wintergarten « begegnet war, hatte Bernikoff unermüdlich
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