ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
die Natur – alles, was die Menschen Realität nannten. Bis kein Geräusch mehr zu hören war. Sie hörte, wie sie vom » Wintergarten « berichtete. Wie sie dort aus dem Toilettenfenster in den Hof sprang, auf dem Autodach landete und schließlich vor dem Mann mit dem markanten Bärtchen stand.
Marie lauschte an der Tür und mit ihrer Erzählung sah sie die Bilder vor sich. Hitler wendete den Kopf, als horche er auf. Das war der Augenblick, in dem sie jedes Mal merkte, dass sie sich wieder im Hirn dieses Mannes befand und aus irgendeinem merkwürdigen Grund sehen konnte, was er sah. Im Inneren ihres eigenen Kopfes. Vor der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters tauchte Marie ein in ein riesiges Tableau aus dunkelroten Wolkenmeeren, die über weites und verbranntes Land zogen, in dem kein Leben zu erkennen war. Schmerz über den Lauf der Zeit und ihre Sinnlosigkeit in dieser unirdischen Landschaft durchfuhr sie. Ein fahler Nebel aus giftigem Gas waberte um Ruinen und Reste von zertrümmerten Kriegsmaschinen und brannte sich allmählich in ihr Herz und in ihren Verstand.
Marie wollte sich losreißen von ihrem Horchposten vor der Tür, aber sie konnte nicht weghören. Stattdessen kehrten die Bilder zurück und sie versank wieder in den Augen von Hitler, in einem abgründigen Gefühl. Sie wusste, dass dieser Mann, wo immer er sich gerade aufhielt, spürte, dass jemand in seinem Kopf spazieren ging. Dass es ihn wahnsinnig machte. Und Marie fürchtete plötzlich, dass es ihr früher oder später nicht anders ergehen würde. Sie zwang sich, aus der Bilderflut aufzutauchen, und stand wieder vor dem Zimmer ihres Vaters. Sie öffnete die Tür und sah, dass er auf seiner Liege lag und mit geschlossenen Augen den Aufnahmen lauschte.
„... Körper aus wimmelndem Gewürm; in der Ferne spannt ein Regenbogen einen Lichtstreif über unerreichbar fernem Land mit Menschen wie Götter, auf die sich Wolken senken; zu einem Sturm aus schwarzen Fliegen, die sich auf die Landschaft legen; sie bedecken ...“
Obwohl sie ihre Stimme erkannte, waren Marie die Worte und die Art, wie die Sätze gebaut waren, fremd. Sie stammten nicht von ihr, genauso wenig wie die Bilder. Doch jetzt schienen ihr die Bilder mit einem Mal vertraut und plausibel, wie eine Wahrheit, nach der ihr dürstete, eine lange verborgene Sehnsucht nach dem Tod, tief in ihrem Innersten, der der Mann lediglich Ausdruck verlieh. Für sie ... für alle.
Allmählich wurde Marie zum Teil der Finsternis, und Umnachtung begann sich auf ihre Gedanken zu legen. Marie wusste, dass sie verloren war, wenn sie sich nicht lösen würde. Von ihm. Von seinen Einflüsterungen.
Seinem Wahn.
Doch es ging nicht.
Marie hatte Angst, ihren Vater zu enttäuschen.
Edda sah ihre Großmutter an. „Wie hast du das nur ausgehalten?“, fragte sie.
Marie zuckte mit den Schultern.
„Leid, das zur Gewohnheit wird, verliert an Schmerz“, sagte sie. „Deshalb muss man es immer gleich zu Beginn abwehren.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hab das nicht geschafft.“
„Nicht geschafft“, sagte sie noch einmal. „Willst du wirklich noch mehr wissen?“, fragte sie Edda.
„Alles“, sagte Edda. Und Marie sammelte ihre Gedanken und fuhr fort.
Gehorsam fand sich Marie weiterhin jede Woche zu einer Sitzung mit ihrem Vater ein und träumte danach den gleichen Traum vom Sprung aus dem Fenster im » Wintergarten « . Immer wollte sie schreien, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Wieder stand sie regungslos vor Hitler und starrte in seine blinden blauen Augen, als von fern das Rufen der Gestapo-Leute erklang. Die Männer in den dunklen Mänteln erkannten Marie. Gleich würden sie bei ihr sein, und sie wusste, dass er sie nur hingehalten hatte, damit seine Schergen sie ergreifen konnten. Ein Lächeln spielte um seinen Mund. Kalt und herzlos.
Marie wollte weglaufen, doch sie konnte sich nicht bewegen.
Die Gestapo-Männer kam näher.
„Lauf, Marie, lauf!“, schrie Bernikoff.
Marie drehte sich um. Doch ihr Vater war nirgendwo zu sehen. Stattdessen blickte sie in Hitlers Gesicht und merkte, dass die Verbundenheit, die sie gefühlt hatte, einzig in der Dunkelheit wirksam gewesen war. Einsamkeit überkam sie. Tränen schossen ihr in die Augen. Die ruhige und sonore Stimme des Mannes wandte sich ihr erneut zu, um sie zu bannen. Doch sie hörte nicht was er sagte.
Marie schaute auf die beiden Gestapo-Beamten und wusste in diesem Augenblick, welchen Weg die beiden nehmen würden, um sie zu fassen.
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