Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)

ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)

Titel: ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Jeltsch
Vom Netzwerk:
klein und alt ihre Großmutter geworden war. Als hätte das Aufheben der fast lebenslangen Hypnose sie schrumpfen lassen. Marie sah Edda auf der alten Couch und lächelte.
    „Ich dachte, du schläfst ewig“, sagte sie zärtlich und stellte den Müllsack neben dem Kamin auf den Boden. Edda stand auf und umarmte Marie.
    „Was machst du denn da?“, fragte sie.
    „Ausmisten. Ab und an muss man sich von der Vergangenheit trennen.“
    „Ich dachte, man muss sich erinnern?“
    Marie lächelte. „Da hast du recht, aber deswegen muss man nicht in der Vergangenheit leben.“
    Sie hob den Sack in die Höhe und schüttete seinen Inhalt auf den Boden. Eine Flut von Fotos, Plakaten, Briefen, Tagebüchern ergoss sich auf den Holzboden, und Marie ging daran, den ersten Schwung in das Feuer zu werfen.
    „Halt!“, schrie Edda. „Ich will die Sachen haben!“
    Verwundert blickte Marie sie an. „Aber wozu?“
    „Wozu?“
    Marie nickte. „Der alte Plunder taugt doch nicht mehr ... sieh mal, wie viel Unglück diese Kiste und dieser Mann über uns gebracht haben.“
    Fassungslos starrte Edda sie an. „Aber ‚dieser Mann‘ ist dein Vater. Ich dachte, du hast ihn geliebt. Ich habe doch dein Tagebuch gelesen ... ohne dein Tagebuch wäre ich nie nach Berlin gefahren. Ohne Carl Bernikoff. Du glaubst gar nicht, welche Rolle er für manche Menschen spielt.“
    Marie nickte. „Das ist das Diabolische an diesem Mann. Er hat große Dinge bewegt, und er hatte ein Charisma, das ihn unfehlbar erscheinen ließ, aber er war auch ein Besessener.“
    Edda und Marie sahen sich an. „Ich dachte, er wäre der wichtigste Mann in deinem Leben gewesen.“
    Marie nickte. Dann setzte sie sich. „Ja. Das war er. Bis Jimmy kam.“
    „Jimmy?“
    Marie wühlte einen Augenblick in dem Berg von Papieren, dann holte sie eine alte Fotografie heraus. Es zeigte Marie und einen jungen Mann mit Hut auf dem Empire State Building. Marie sah glücklich aus. Der Mann hatte den Arm um sie gelegt. Er hatte eine verblüffende Ä hnlichkeit mit Gopal.
    „Das war 1943.“
    Edda schluckte. „Da warst du sechzehn ... Wie bist du im Krieg nach Amerika gekommen? Wo war dein Vater?“
    Marie senkte den Blick. Sie hatte keine Lust, in die alten Zeiten und die Gefühle, die in ihnen lauerten, abzutauchen. „Es gibt einen guten Grund, weshalb ich den Plunder verbrennen will.“
    „Warum? Bitte, ich muss es wissen“, sagte Edda.
    Marie seufzte. Sie warf einen Holzscheit auf das Feuer und setzte sich zu Edda.
    „Stell dir vor, du bist verliebt“, sagte Marie. „Nein, nicht nur verliebt. Stell dir vor, du hast den Mannes deines Lebens gefunden ...“
    Sie nahm ein anderes Foto auf und zeigte es Edda ...

    Liebevoll schaute Marie auf den jungen Mann, der neben ihr auf dem Fahrersitz des offenen „Opel Kapitän“ saß. Warmer Fahrtwind ließ ihr Haar flattern. Seit einer Woche trug Marie keine Zöpfe mehr. Sie hatte sie abgeschnitten, sodass ihr Haar bis auf die Schultern reichte, dort rollte es sich leicht nach innen. Marie war jetzt kein Mädchen mehr. Als wolle er das bestätigen, reichte der Mann hinter dem Steuer Marie eine Schachtel Zigaretten.
    „Machst du mir eine an?“
    Marie nahm eine Zigarette heraus und klopfte den Tabak auf der Konsole des Autos fest. Dann steckte sie sich die Zigarette in den Mund und zündete sie mit einem Streichholz an, indem sie schützend die Hände davorhielt. Sie zog und blies den Rauch aus, ohne zu inhalieren, dann steckte sie dem Fahrer die brennende Zigarette zwischen die Lippen. Er schob seinen Hut in den Nacken und rauchte. Die Ärmel seines weißen Hemdes hatte er aufgekrempelt. Marie rückte näher. Er legte den Arm um ihre Schultern, während er den Wagen mit einer Hand auf der Landstraße Richtung Hamburg steuerte.
    Auf dem Rücksitz stand ein Koffergrammofon. Marie beugte sich nach hinten und zog die Kurbel auf, dann setzte sie den Tonarm mit der dicken Nadel auf die Schellackplatte und ein Stück von Louis Armstrong erklang, während der Wagen weiter über die leere Landstraße raste. Es war Carl Bernikoffs Wagen, aber der Mann an Maries Seite war nicht ihr Vater.
    Er hieß Jimmy und war fast fünf Jahre älter als Marie.
    „Willst du mal fahren?“, fragte Jimmy.
    Marie bekam einen freudigen Schreck. Obwohl Bernikoff sie nicht wie ein Mädchen erzogen hatte, war sein „Opel-Kapitän“ für Marie immer tabu gewesen. Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr Jimmy rechts an den Straßenrand und sie wechselten den Platz.

Weitere Kostenlose Bücher