ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
tatsächlich gab und wozu sie imstande war, wenn man sich ihr widersetzte.
Simon und Edda nahmen die Rolltreppe, die hinunter in das Geschoss führte, von dem aus die S-Bahnen fuhren. Sie brauchten nicht auf den Plan zu schauen, um zu wissen, welche Linie sie zu Bixbys Wohnung führen würde. Der Kampf ums Überleben auf den kalten Straßen der Stadt hatte die Topografie der Metropole für lange Zeit in ihr Bewusstsein gebrannt. Sie wussten, wo die Überwachungskameras hingen, und mieden sie geschickt. Edda lächelte und Simon nahm sie in den Arm. Zutraulich schmiegte sie sich an ihn. Vor wenigen Tagen in Cuxhaven und Mannheim hatten beide gemerkt, dass ihre alte Welt untergegangen war wie ein Spiel aus der Kindheit, das für einen Sommer alles bedeutet hatte, um dann zu einer bloßen Erinnerung zu verblassen. Allein der Gedanke, sich noch einmal mit ihren alten Freunden und deren Alltagssorgen zu verbrüdern oder ihnen erklären zu müssen, was mit ihnen und der Welt geschehen war und geschehen würde; in der Schule zu sitzen und einem jungen Lehrer zu glauben, dass wichtig war, was er der Klasse erzählte, weil eine Kultusministerkonferenz es beschlossen hatte, damit die Schüler später besser in den Arbeitsmarkt passen würden, der den Politikern von Leuten wie Ono in die Feder diktiert wurde ... diese Vorstellung ließ Edda und Simon jetzt nicht einmal mehr müde lächeln. Jetzt gab es nur noch sie beide, und keinen beschäftigte die Frage, ob sie boyfriend, girlfriend, Freunde, Verlobte waren oder überhaupt „zusammen“. Es gab nichts, was sie hätte trennen oder näher zusammenbringen können. Nie hatten sie sich stärker gefühlt, und vor ihnen lag nicht nur eine Aufgabe, sondern etwas, das so weit und schön und unbekannt und interessant war, wie es nur sein konnte: ihr Leben. Auf der Plattform hatten sie mit Gleichgesinnten gelebt, Erfahrungen und Aufgaben geteilt, etwas so Verlockendes, dass beide insgeheim gehofft hatten, dort eine Heimat gefunden zu haben. Immer noch waren sie erschüttert über den Tod der Menschen auf der Plattform, die Brutalität der Angreifer und die Tatsache, dass keinerlei Nachrichten darüber in der Presse oder im Netz aufgetaucht waren. Olsen hatte recht gehabt. Sie mussten weiterkämpfen. Jetzt lag es an ihnen.
Edda und Simon wussten, dass sie all ihre Fähigkeiten brauchen würden, um den Schlag gegen Ono und seine Leute zu führen. Aber sie ließen sich keine Angst mehr machen. Sie hatten sich entschieden, für etwas zu kämpfen, an das sie glaubten: eine freie Welt.
Simon lächelte und Edda lächelte zurück. Er wusste, was sie dachte. Erstaunlich, wie viel ihnen in den letzten Monaten bewusst geworden war, wie weit sich ihre Fähigkeiten und Talente ausgebildet hatten und wie sehr sie gereift waren.
„Die Schweine haben wirklich ganze Arbeit geleistet“, sagte Edda plötzlich in einem Anflug von Bitterkeit, als sie in der S-Bahn saßen. „Meinst du, wir hätten bei Olsen bleiben sollen?“
Simon schüttelte den Kopf. „Es war genau richtig, wie wir es gemacht haben. Aber jetzt sollten wir zu ihm Kontakt aufnehmen.“
Edda nickte. Sie blickten auf die Menschen, die aus dem Abteil des S-Bahn-Waggons stiegen, und die neuen, die hereinströmten. Ein Straßensänger mit Quetschkommode spielte, ohne dass jemand seinen Kopf gehoben hätte. Dann erkannte sie, wieso: Die meisten trugen Kopfhörer und keiner schien den anderen wahrzunehmen. Ohne einen Cent verließ der Sänger den Wagen an der nächsten Station wieder. Für eine Sekunde meinte Simon seinen russischen Freund Nikto in dem Sänger gesehen zu haben. Doch dann verschwand das Bild vor seinem geistigen Auge. Auch Nikto gehörte zu der alten Welt, die für immer untergegangen war. Die Erinnerung an ihn schwächte Simons Kraft und die Determination, die sie jetzt brauchen würden.
Die Vergangenheit war zu Ende.
Eine Station vor Meyrinks Wohnung verließen Edda und Simon die S-Bahn und gingen zu Fuß weiter. In einer arabischen Technikbude kauften sie zwei alte Handys und Pre-Paid-Karten, dann setzten sie sich in ein Café und bestellten. Während Edda sich frisch machte, setzte Simon die Karten ein und aktivierte die Accounts. Er rief das eine Handy mit dem anderen an und speicherte nur eine Nummer. Eddas.
Dann öffnete er den Computer, den ihm sein Vater mitgegeben hatte. Über ein Virtual Private Network konnte er damit kommunizieren, ohne abgehört zu werden. Simon scrollte durch die Daten auf dem
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