ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
hinsehen musste, und sie begriff, dass sie bereits ihr ganzes Leben mit der Leere geteilt hatte. Jetzt aber, da man ihr ihre Arbeit und ihre Aufgabe genommen hatte und damit das Einzige, was sie am Leben erhielt, drang diese Leere auch immer tiefer in sie vor.
Noch immer wohnte Greta in derselben Wohnung, in der sie während der letzten Kriegsjahre aufgewachsen war. Kaum etwas hatte sich verändert. Einrichtung war ihr niemals wichtig gewesen. Wichtig waren ihre Forschungen. Sie hatte Carl Bernikoff versprochen, dass sie seine Arbeit weiterführen würde, egal was geschah – und auch wenn sie damals noch ein Kind gewesen war, sie hatte Wort gehalten. Bis heute.
Und jetzt war es vorbei. Und sie hatte es nicht kommen sehen.
In den letzten Monaten war sie so auf ihre Arbeit mit Marie und Simon, Edda und Linus fokussiert gewesen, dass sie die Entwicklungen, die gene-sys in den anderen Teilen der Welt nahm, schlichtweg ausgeblendet hatte. Dem Beleg für die Existenz der Kritischen Masse so nah, hatte Greta alles andere ignoriert. War das ein Zeichen, dass sie wirklich zu alt geworden war?
Victor jedenfalls hatte ihre Konzentration auf das Wesentliche ausgenutzt und alles verraten, woran sie glaubten. Wie hatte Greta ihn nur so falsch einschätzen können? Den jungen talentierten Hirnforscher, den sie bei einer Tagung in Zürich kennengelernt hatte und der bereit gewesen war, neue und gänzlich ungewöhnliche Pfade in der Forschung zu beschreiten. Als Greta Victor einen Posten bei gene-sys anbot, lehnte er ab, da er sich um seine alten Eltern in Basel kümmern musste. Greta hatte nicht lockergelassen und einfach eine Niederlassung von gene-sys in der Nähe der deutsch-schweizerischen Grenze gegründet und Victor die Leitung übertragen. Als seine Eltern gestorben waren, hatte sie ihn sogar nach Boston geschickt, um dort in Zusammenarbeit mit dem M.I.T. die Erforschung des menschlichen Gehirns voranzutreiben. Aufgrund seiner Alltagsuntüchtigkeit hatte sie ihm dort eigenhändig ein kleines Häuschen und eine Haushaltshilfe besorgt. Victor war ihr wirklich etwas schuldig und jetzt hatte er sie einfach hintergangen. Er hatte sein eigenes, intrigantes Spiel gespielt.
In den letzten Stunden war Greta die entscheidenden Unterlagen durchgegangen und es gab keinen Zweifel: Zusammen mit dem Finanzvorstand des Konzerns hatte Victor heimlich die Strukturen zur Kapitalisierung von gene-sys verändert. Die Krise der Banken hatte wie bei vielen Konzernen auch bei gene-sys zur Folge, dass Kredite nicht prolongiert oder gewährt wurden. Geld musste anderweitig beschafft werden. Der Finanzvorstand und Victor waren bei M.O.T. Nanos fündig geworden. Aber der Weltkonzern in Sachen Saatgut stellte Bedingungen: Gesundschrumpfung.
Gretas Arbeit im Teufelsberg war offenbar in letzter Zeit nur noch eine Spielwiese für die alte Frau gewesen. Aus Dankbarkeit hatte man ihr zwar weiter Gelder zukommen lassen, aber ihre Arbeit hatte man nicht mehr ernst genommen. Ihre Theorie von der Erschaffung einer besseren Welt durch Ausbildung einer Elite galt unter den gene-sys- Wissenschaftlern weltweit längst als Gedankengut einer Ewiggestrigen.
Greta spürte die Bitterkeit, die in ihr aufstieg. Sie war nur noch ein Clown, eine Witzfigur gewesen und hatte nichts davon geahnt. Dennoch hatte sie den Teufelsberg mit einem großen, heimlichen Triumph verlassen. Nie wäre ihr das gelungen, wäre Victor nicht so siegessicher gewesen.
„Wir müssen reden“, hatte er gesagt und die Video-Aufzeichnungen gestoppt, die sich Greta gerade in ihrem Büro im Teufelsberg ansah. Die Überwachungskameras hatten das Eindringen der Kinder und die Befreiung von Marie gefilmt, und Greta war dabei, sie zu analysieren. Die Vehemenz, mit der Victor plötzlich auftrat, überraschte sie. Da war nichts mehr zu spüren von seiner üblichen Zurückhaltung.
„Hör mir zu!“, befahl Victor, weil Greta nicht reagierte. Greta aber wollte sich diesen Ton nicht bieten lassen. Sie wollte die Verfolgung der Kinder vorantreiben; nichts war jetzt wichtiger. Sie war aufgewühlt, weil die Art, wie Marie befreit worden war, für Greta der Beweis für die Richtigkeit ihrer Theorie war.
„Die Kinder haben als Kritische Masse zusammengefunden. Sie haben unsere Wahrnehmung der Realität manipuliert. Und wir konnten nichts dagegen tun. Ich hab es gewusst – diese drei sind der entscheidende Rohstoff für eine bessere Welt.“
„Nein, Greta“, sagte Victor kühl. „Deine Zeit ist
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